Über Geschichte zu Gericht sitzen

Am 4. März 2016 fanden im Großen Schwurgerichtssaal des Landesgerichts-Gebäudes in Wien VIII die Dreharbeiten zu einem künstlerisch-gesellschaftskritischen „Experiment“ statt, das die Konzeptkünstler Tal Adler aus Israel und Karin Schneider aus Österreich im Rahmen ihres „Conserved Memories (PEEK FWF) research project“ geplant hatten. Unter dem Titel „You be the judge!“ sollte ein Zeugeneinvernahmeverfahren nachgestellt werden, das einem „Urteil“ über die jüngere Geschichte Österreichs vorzuarbeiten gedachte. Namentlich galt das Interesse der Frage eines dauerhaften Einflusses der NS-Jahre, ihres Personals und ihrer Strukturen auf die Zweite Republik, deren „Geschichtspolitik“ und „Erinnerungskultur“, wie sie sich im öffentlichen Raum womöglich bis heute manifestierten. Das „Urteil“ selbst sollte den Zusehern der fertigen Produktion vorbehalten bleiben. Als „Zeugen“ in der Prozess-Mimikry um eine große Abwesende fungierten Personen aus Wissenschaft, Kultur, Politik sowie Zeitzeugen unterschiedlicher Façon. Unter anderem war beabsichtigt, die Problematik anhand einzelner Beispielfälle zu veranschaulichen. Aus der Literaturgeschichte hatte man in kontrastierender Absicht Stefan Zweig und Josef Weinheber und deren jeweilige Wirkungsgeschichte ausgewählt.

Ich hatte die Einladung erhalten, als literaturwissenschaftlicher Fachmann für Josef Weinheber eine Stellungnahme als „Zeuge“ abzugeben. Auch wenn ich gegen Ansatz und Konzept erklärtermaßen große Bedenken hegte – die Vorstellung des Zugerichtsitzens über die Vergangenheit schien mir doch allzu abgeschmackt und mit einer gehörigen Portion von Hybris behaftet -, sagte ich zu, nachdem man mir in mehreren, durchaus verständnisvollen Gesprächen versichert hatte, keineswegs die Inszenierung eines Tribunals zu beabsichtigen. Man wollte sich um eine gewisse Balance in den Ansichten und die Ausdifferenzierung der Standpunkte und ein offenes Ergebnis bemühen. Was meine Skepsis motivierte, vergegenwärtigt auch die Formulierung der an mich gerichteten Fragen. Sie betraf vor allem die Gefahr, dass mit einem allzu plakativen Geschichtsbild operiert werde.

Die Stellungnahmen zu diesen Fragen wurden, wie es in solchen Fällen üblich ist, vorab schriftlich erbeten, ausgearbeitet und nachdrücklich gutgeheißen. Bei den Dreharbeiten jedoch hielt man sich, teils aus organisatorischen Gründen, teils durch individuelles Versagen anderer Beteiligter, nicht an dieses „Drehbuch“. Ich konnte von dem Vereinbarten nur den ersten Abschnitt in geplanter Form wiedergeben, den zweiten Abschnitt bestenfalls fragmentarisch, weil die Frageführung erheblich verändert worden war, und der dritte Abschnitt blieb völlig auf der Strecke. Stattdessen sah ich mich in die Rolle des Verteidigers Josef Weinhebers und der von der Weinheber-Gesellschaft repräsentierten Erinnerungspflege gedrängt. Diese Rolle einzunehmen hatte ich mir vorweg ausdrücklich verbeten, weil ich sie, erst recht in einem solchen Zusammenhang, für völlig unfruchtbar hielt und weil sie weder der Dichter noch ich selbst nötig haben.

Es ist mir kein Anliegen, Kritik an dem unglücklichen Vorgang zu üben, hinter dem ich nicht üble Absicht, sondern ein bedauerliches Missgeschick in Planung und Reflexion erblicke. Und schließlich bin ich ja selber schuld, mich sehenden Auges darauf eingelassen zu haben. Im Folgenden möchte ich jedoch die Gelegenheit ergreifen, meine Antworten auf die Fragen Tal Adlers und Karin Schneiders in der Form zugänglich zu machen, wie ich sie entsprechend der Vorbereitung und Abmachung, wenn auch auf Grund des engen zeitlichen Korsetts mit einigen Kürzungen, hätte vorbringen sollen und wollen. Vielleicht ist es ganz gut und nützt anderen, das zu dokumentieren.

Christoph Fackelmann

 

Denken Sie, dass die Kulturpolitik und die kulturellen Netzwerke der Nazi-Zeit noch immer das heutige Kulturleben in Österreich beeinflussen?

Um das zu beantworten, bin ich nicht der richtige. Diese Frage müsste man einem Politologen oder Zeithistoriker stellen, denn sie ist wohl nur auf dem Gebiet von Rechtsextremismus und Neonazismus zu klären. Diese siedeln heute am absoluten Rand der Gesellschaft, haben kaum intellektuelle Kapazität und kulturbildende Kraft. Ich kann mir daher beim besten Willen nicht vorstellen, dass es noch einen aktiven, irgendwie nennenswerten Einfluss von „Netzwerken“, die aus der „Nazi-Zeit“ in die Gegenwart fortwirken, auf unser geistiges und kulturelles Leben – z. B. die Gegenwartsliteratur, das Theaterleben, den Kulturjournalismus, die Universitäten etc. – gibt.

Wenn ich Ihre Frage jedoch so verstehen soll, dass es um das Fortwirken und Fortbestehen eines bestimmten literarischen Kanons über die politische Zäsur von 1945 hinweg bis in die Gegenwart geht, dann kann ich konkreter antworten: Ja, das gibt es. Dieser literarische Kanon ist allerdings kein „Nazi-Kanon“ bzw. berührt sich mit einem solchen nur teilweise. Er ist älter, langlebiger und selbstverständlich weniger radikal. Im Wesentlichen gründet er sich auf zwei Faktoren:

In der Ästhetik ist er tendenziell antimodern, will von den Avantgarden des 20. Jahrhunderts wenig wissen, rezipiert allenfalls noch die Positionen der sog. Klassischen Moderne, und auch das eher äußerlich.

Wichtiger ist ihm indes, zweitens, eine stoffliche und gesinnungsmäßige (ideologische) Auslesekomponente: Die Werke und Autoren, die er bevorzugt und tradiert wissen möchte, verbindet er mit Deutschbewusstsein, von Österreich aus gesprochen: einem deutschnationalen, also anschlussfreundlichen, partiell völkischen politischen Weltbild, mit der motivischen Hinwendung zu „Volkstum“ und „Heimat“, dem Interesse für das sog. „Grenzlanddeutschtum“ und dessen historische Schicksale im „Volkstumskampf“ usw. Dieser literarische Kanon hatte noch in den fünfziger und sechziger Jahren eine beträchtliche Wirkkraft in Österreich. Das war auch dadurch bedingt, dass nicht wenige lebende Vertreter der sog. „nationalen“ Schriftstellerschaft aus der Zwischenkriegszeit in der frühen Zweiten Republik eine relative öffentliche Anerkennung erfuhren und über gewisse Publikationsspielräume verfügten. Ihre mehr oder minder intensive Involvierung in die Kulturpolitik der NS-Jahre wurde damals nicht restlos ausgeklammert, sie spielte aber eine untergeordnete Rolle. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in Österreich während dieser Jahrzehnte eine verhältnismäßig restaurative Grundstimmung im kulturellen Leben vorherrschte, in die kulturkonservative Gruppierungen verschiedener Herkunft einstimmen konnten.

Das wandelte sich allerdings in den späteren Jahrzehnten bekanntlich grundlegend, sodass der deutschnational-konservative Kanon in der Literatur und Kunst schon wegen des völligen Paradigmenwechsels im Kunst- und Kulturbegriff heute fast völlig an Geltung verloren hat. Die Namen vieler Schriftsteller, die darin fixe Größen waren, sind heute vergessen oder kehren nur noch unter dem Vorzeichen kritischer Auseinandersetzung mit der NS-Zeit wieder. Der Kanon selbst erfreut sich wohl noch eines gewissen Schattendaseins in peripheren, eher schlecht beleumundeten Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft, wie in Landsmannschaften, nationalen Burschenschaften, verbliebenen Volksbildungskreisen des Dritten Lagers.

 

Als ausgewiesener Forscher zu Weinheber, wie würden Sie den Autor und seine Signifikanz einschätzen? (wie viele Bücher, Preise, Übersetzungen hat Josef Weinheber ungefähr vorzuweisen?) 
Wie schätzen sie die Erinnerungskultur ein, die Weinheber zuteil wird?

Um an das Gesagte anzuknüpfen: Weinheber ist der interessante Fall eines wirklich bedeutenden Autors, der in den deutschnational-konservativen Kanon eingemeindet wurde, ohne wirklich dort hinein zu passen. Schon früh sprach die kritische Weinheber-Literatur daher davon, dass er „auf den falschen Parnass“ gestellt worden sei. Das deutschnational geprägte Bildungsbürgertum hat ihn also gleichsam als „Gesinnungsgenossen“ okkupiert und ignoriert, was alles dagegen spricht, vor allem wenn man sein Künstlertum objektiv in Rechnung stellt. Das funktionierte erst recht nach seinem Tod, als er nicht mehr Einspruch erheben konnte, immer wieder ganz gut. Diese anekdotenumrankte Vereinnahmung demonstriert zum Beispiel der von Heinrich Zillich herausgegebene Erinnerungsband „Bekenntnis zu Josef Weinheber“ von 1950.

Sie repräsentiert aber selbstverständlich nur ein kleines Fragment innerhalb der Weinheber-Rezeption vor und nach 1945, und man darf es sich auch keineswegs allzu einheitlich und planvoll vorstellen. Es macht mich allerdings stutzig, wenn mich manchmal nach einem Vortrag oder einer Lesung Zuhörer, meist in hohem Alter, daraufhin befragen, wie ich denn als Weinheber-Kenner zu ihren übrigen Lieblingsdichtern, zum Beispiel Mirko Jelusich, Bruno Brehm oder Karl Heinrich Waggerl, stünde. Nicht dass nicht auch an diesen Schriftstellern mitunter Bemerkenswertes und Interessantes wäre, aber ich weiß, was Weinheber von ihnen hielt und was ihn literarisch-künstlerisch fundamental von ihnen unterschied, deren vermeintlicher politischer Weggefährte er war. Auch heute macht sich diese Frontenbildung also noch bemerkbar, nun freilich, abgesehen von solchen Überbleibseln der Generationenprägung, vor allem in der negativen Wahrnehmung, mündend in das plumpe Vorurteil des „Nazi-Dichters“.

Natürlich hat Weinheber selbst dazu beigetragen. Er hat sich ab einem bestimmten Zeitpunkt, etwa 1933/34, „kulturbetrieblich“ an das „nationale“ Lager angeschlossen. Er hat für kurze Zeit sogar an den von der NSDAPÖ und Mirko Jelusich ausgehenden Sammelbestrebungen unter „nationalen“ Schriftstellern Österreichs („Kampfbund für deutsche Kultur“) mitgearbeitet. Er hat in nationalkonservativen Verlagen und Zeitschriften publiziert und sich auch den Ehrungen von offizieller Seite, sei es aus Schuschnigg-Österreich, sei es aus Hitler-Deutschland, nicht verweigert. Hinzu kommt eine Anzahl von Fest- und Preisgedichten, die er zu offiziellen politischen Anlässen schrieb, zwar nicht aus eigenem Antrieb und Überzeugung, sondern in einer Mischung von Auftrag, Zwang und (lebensgeschichtlich bedingtem) übertriebenem Geltungsbewusstsein, meist mehr schlecht als recht „zusammengebosselt“.

Die deutschnationale Weinheber-Legende benützt also Gesten der Annäherung, die der Autor selbst setzte, allerdings in einer nivellierenden und verzerrenden Form. Was Weinheber ursprünglich dazu trieb, sich mit dem Lager der Nationalisten einzulassen, ist mit wenigen Worten nicht zu erklären. Der Germanist Ernst Alker hat schon 1952 für die Haltung Weinhebers während der dreißiger Jahre den Begriff des „politischen Immoralismus“ geprägt. Damit liegt man sicher nicht ganz falsch, vor allem, wenn man sich dazu vergegenwärtigt, wie stark damals der soziale Druck war, Partei zu ergreifen: im politischen Lagerkampf, dessen Bürgerkriegs-Zuspitzungen längst auch kulturelle Dimensionen erlangt hatten (die Sozialgeschichtsschreibung über die Zwischenkriegszeit spricht von einer weitgehenden „Verghettoisierung“ gegeneinander abgeschotteter kultureller Milieus). Wichtig ist auch der radikale Formalismus, der Weinheber als Künstler prägte und der die Stoffe und Anlässe seiner Gedichte für ihn zweitrangig erscheinen ließ. Dies, verbunden mit einem grundsätzlichen tiefen, tragischen Pessimismus, führte zu einer entschiedenen Verachtung für alles zeitgenössische Treiben auf der Ebene des Meinungskampfes – sicherlich eine Form von demonstrativer Ignoranz.

Wer genauer auf die Praxis des „politischen Handelns“ von Josef Weinheber hinsieht, stößt freilich unweigerlich auf eine komplexe Fülle von Widersprüchen und Ungereimtheiten. Er kann zum Beispiel beobachten, wie Weinheber schon beim ersten Mal, als er eine große Auszeichnung im Deutschen Reich entgegennimmt (den „Mozart-Preis“, 1936 in München) mit einer unverhohlenen Klarstellung vor sein Publikum tritt: Bei dem „Ruhm“, zu dem er nun überraschend doch noch gekommen sei, handle es sich wohl „im großen und ganzen“ um „ein Missverständnis“. Oder bei einer vielbeachteten Veranstaltung zu seinen Ehren, zu der 1937 das „Vaterländische Front-Werk ,Neues Leben‘“ eingeladen hat: Weinheber bekennt sich mit Nachdruck dazu, dass er sein „Sprachgewissen“, also das Zentrum seines literarischen Selbstverständnisses, Karl Kraus verdanke, dem verpönten „Fackelkraus“, einem Gegner alles Völkischen, Nationalistischen, Totalitären in Sprache und Denken. Das ist ein oft wiederholtes Bekenntnis, dessen Folgen kaum zu überschätzen sind. Es stimmt auch überein mit der immer wieder zum Ausdruck gebrachten Verachtung, die Weinheber für die Doktrin der „volkhaften“ Dichtung, den ganzen „Blut und Boden“-Zeitgeist hegt.

Oder die Frage, wie Weinheber tatsächlich über den „Anschluss“ denkt, dem er mit seinem „Hymnus auf die Heimkehr“ ein Festgedicht gewidmet hat: Weinheber bekundet nämlich in Briefen und Gesprächen mit Freunden, dass er darüber geweint habe, dass er sich lange nicht damit habe abfinden können, bis er schließlich resigniert habe, dass er den Verlauf, also die Gewaltexzesse, die Repression, das Auslöschen österreichischer Identität usw., mit schierem Entsetzen verfolgt habe. Und im Sommer 1938 denkt er sogar daran, eine bevorstehende Vortragsreise durch die Schweiz zum Absprung in die Emigration zu nützen. Was ihn davon abbringt, ist vor allem das Flehen enger Vertrauter, die ihn zum Ausharren bewegen: „Willst Du die Kunst den S.A. Leuten [sic!] überlassen?“

Und da sprechen wir noch gar nicht davon, was ihn als Lyriker künstlerisch ausmacht und eben weit über den Tellerrand jenes nationalkonservativen bis nationalsozialistischen Kunst- und Medienbetriebs hinaushebt. Deshalb war auch sein künstlerischer Rang – das Bleibende – diesen „Verstrickungen“ zum Trotz eigentlich über alle ideologischen Gräben hinweg unbestritten, sowohl zu Lebzeiten als auch noch weit in die Nachkriegsepoche hinein, die Generation der Bachmann, Bernhard, Jandl einschließend.

Dass er persönlich (nicht künstlerisch) grandios an seinen an Karl Kraus geschulten Maßstäben im Umgang mit der „Zeit“ scheiterte, macht übrigens auch viel von der Faszination aus, die gerade seine späte Lyrik ausstrahlt. Denn darin, etwa in den „Bekenntnis“-Gedichten des letzten Buches, „Hier ist das Wort“, setzt er sich ja selbst schonungslos mit seinem menschlichen Versagen auseinander. Diese Gedichte sind von einer bestürzenden Hellsichtigkeit. In einem Brief aus dem Jahr 1943 fasst er seine Lage dann in den bekannten Sätzen zusammen: „Ich musste, seit ich berühmt bin, dem Mob aller Schattierungen meinen Tribut zahlen. Gleichwohl weiß ich um meine Substanz. Sie ist umschrieben mit: Einsamkeit, Urangst, Frömmigkeit.“ – Das alles verrät sehr viel über die Verwerfungen des modernen Literatursystems unter den extremen Verhältnissen des frühen 20. Jahrhunderts.

 

Nach Ihrer Meinung sollten die Lektüre Weinhebers, die Forschungen zu ihm und die Erinnerungen an ihn von seinen politischen Ausrichtungen und Aktivitäten getrennt werden. Könnten Sie uns diese Haltung darlegen?

Da hätten Sie mich gründlich missverstanden. Ich bin selbstverständlich nicht der Ansicht, dass in der historischen Auseinandersetzung mit Josef Weinheber oder mit einem anderen Dichter seiner Generation das politische Handeln – vor allem soweit es ein Texthandeln ist – unberücksichtigt oder gar gezielt ausgeblendet bleiben sollte, sei es in der öffentlichen Erinnerung und Kulturpflege, sei es in Wissenschaft und Forschung. Das wäre eine unhaltbare, rettungslos veraltete Position.

Es kommt mir aber sehr auf einige kritische Differenzierungen hinsichtlich der gelebten Praxis an:

Erstens hat sich die mediale Befassung mit solchen Fällen in unserer Zeit als völlig unfähig und unwillig erwiesen, der von mir zuvor bestenfalls angedeuteten Komplexität des Problems gerecht zu werden. Sie beschränkt sich auf die verhängnisvolle Übertragung von Ritualen der Aufdeckerjournalistik auf den Umgang mit der Erinnerungspflege auf dem Gebiet des geistigen und literarischen Erbes. Hysterische Medienkampagnen, „Nazi-Dichter“-Schlagzeilen, parteiliche Ausschlachtung, dafür in Dienst genommene Historikerkommissionen, denkmalstürzlerischer Aktionismus: das sind keine tauglichen Mittel, um anspruchsvolle geschichtspolitische Diskurse zu führen. (Denken Sie an den lächerlichen Tanz um den Text von Manfred Hausmann, der vor zwei Jahren zur Probe-„Zentralmatura“ gegeben wurde: Da haben sich die Skandalisierer reihum die schrecklichsten Blößen gegeben, was literarhistorische Bildung und hermeneutisches Vermögen betrifft.) Der Erkenntnisgewinn, die Aufklärungsleistung solcher Vorgänge ist gleich null, auch ihr vorgeschobener Provokationswert ist längst nicht mehr ernst zu nehmen. Sie sind nicht Zeugnis von „Mut“, sondern von hochgradigem Konformismus. Die Skandale selbst wurden alle schon dutzende Male durchgespielt (im „Fall“ Weinhebers buchstäblich seit den ersten Nachkriegsjahren, wenn nicht seit 1933), die Fakten liegen seit ewigen Zeiten offen zutage.

Daher sind die gegenwärtigen Polemiken gegen Straßenbenennungen, Denkmäler, Ehrentitel u. dgl. meiner Ansicht nach Versuche, aus längst entschiedenen kulturpolitischen Hegemonialdiskursen noch einmal kurzfristig Kapital in eigener Sache zu schlagen, und zwar auf dem Rücken längst Verstorbener und Vergessener. Das ist feig, ja in hohem Maße hypokritisch. Man soll sich jedenfalls keiner Illusion darüber hingeben, was man dann von unserer heutigen Erinnerungspraxis im öffentlichen Raum, unseren Auswahl-, Auslese- und Säuberungsprozessen in dreißig, vierzig Jahren halten wird. Also: Hier wäre Zurückhaltung und intellektuelles Verantwortungsbewusstsein, vor allem der politischen Entscheidungsträger, aber auch der „Experten“, gefragt.

Zweitens: Geschichtspolitik, die sich auf öffentliche Zeichen der Erinnerungskultur erstreckt, macht es sich leicht, wenn sie sich auf die vermeintlichen politischen Schattenseiten der Geehrten aus früheren Zeiten kapriziert. Denn: wer kennt diese Personen heute denn überhaupt noch? Wer weiß etwas von ihren Leistungen, ihrem Werk, dessentwegen man es einst für wert befand, an sie zu erinnern. Denn wenn es sich um Personen aus dem Geistesleben – Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler – handelt, muss die Erinnerung an diese Leistungen doch wohl Vorrang haben. Kritische Vermittlung hätte also zumindest ganzheitlich anzusetzen. Diese Sensibilität kann ich leider in den aufgeregten Debatten um Straßenpatronate, Ehrendoktorate etc. nicht erkennen. Plumpe posthume Distanzierungsgesten wie die Aberkennung von Ehrentiteln oder das grassierende „Zusatztafel“-Unwesen gehen mit diesem Dilemma höchst erbärmlich um.

Ich halte grundsätzlich nicht viel vom Denkmalkult mit seiner letztlich aus dem nationalliberalen Bürgerstolz der Gründerzeit herrührenden Personenverklärung. Sicher waren die Urteile, die ihm zugrunde lagen, auch in früheren Jahrzehnten voll von zweifelhaften, interessenbedingten Einschränkungen. Aber es sollte doch wenigstens soviel außer Streit stehen:

Wenn ich an Stefan Zweig als Verfasser bedeutender, weltweit gelesener Literatur erinnern möchte, dann sollte mich nicht daran hindern, dass der Autor seine Propagandaarbeit im 1. Weltkrieg verschwieg, als er sich später als Pazifist profilierte, oder dass er womöglich ein ziemlich fragwürdiges Sexualleben führte (wie es jüngst aus Anlass einer neuen Biographie durch die Medien geisterte). Und ob ich an Josef Weinheber erinnern möchte, darüber entscheidet nicht, was ich von seinem chronischen Alkoholismus, seiner mitunter maßlosen Ichbezogenheit oder eben seinen politischen Verfehlungen halte, sondern dass ich in „Adel und Untergang“ und „Wien wörtlich“ bleibende Kunstwerke sehe.

Bei aller grundsätzlichen Skepsis gilt es mithin, Prioritäten zu setzen. Die geradezu manische Engführung auf (einige wenige, ganz bestimmte) politische Teilaspekte von Schriftsteller- und Künstlerbiographien aus dem frühen 20. Jahrhundert, wie wir sie heute beobachten, redet eigentlich um den heißen Brei herum. Sie umkreist in sicherem Abstand, verdruckst, das eigentlich Herausfordernde, das „Werk“. Sie geht der offenen Auseinandersetzung damit mit fast schon pathologischem Eifer aus dem Weg. – Ich bezweifle, dass diese Spielart von Vergangenheitsverdrängung die gesündere ist.

 

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