Elegie auf den Tod Josef Weinhebers

Josef Weber
Märzelegie
An Josef Weinheber
(1947)

Schlenderten durch deinen Garten
vorfrühlings: Märzbecher, Primeln, Narzissen –
gingen von Baum zu Baum – Seelen,
viele des Abendlands standen
anders, dunkeln blühende Gärten,
in dem Abglanz des Abends
unsrer Gespräche.
Oft wie geronnenes Blut
stockte das Wort
schwarzrot wie die Äste,
die du gärtnerisch rauh,
aber lieb-kostest,
die von deiner so vielen,
hoffnungsvielen Mühe gereinigt,
prahlten, dem Tode geschmückt.

Ich sah dieses besorgt,
vorbedacht mehr noch.
Ordnung – damals erfuhr ichs –
war deines Geistes Lust
und die Lust deiner Hände,
aber die Seele ganz voll der
ungeheuren Vergeblichkeit
alles des Schönen.

Sahen: die Große, die Kunst, saß
wie ein Kind in den Trümmern,
schwarze Flüge ums Haupt,
um das unverwesliche.
Doch ihre Schwester Natur?
Tränen knospeten überall
in dem Gezweig, sie spielte,
schwieg, sang und ihre Meisen
schellten ein Frühjahr heran,
ein enterbtes.

O, das Abendland spiegelte
in deines Brunnens schwarzem Kristall
einmal noch ganz sich, ein letztes
schmerzvolles mal –
dann erlosch es.

Sanft ist das Land noch – ich weiß es –
immer noch sanft um den
unverstorbenen Garten,
ob es die Weizenbürde erträgt
oder ob es leise frohlockt
mit Disteln und Mohnen.
Aber nun hat es härtere Würde:
Es birgt dein Grab.

Dieses nachgelassene Gedicht des niederösterreichischen Arztes und Schriftstellers Josef Weber (eigentl. Josef Wenzlitzke, 1892-1969) erfuhr durch Ralf Gnosa seine Erstveröffentlichung im Rahmen des schönen, verdienstvollen Aufsatzes „Josef Weber und Josef Weinheber“ (Literaturwissenschaftliche Jahresgabe der Josef Weinheber-Gesellschaft N. F. 2010/2011/2012, Wien-Berlin: LIT Verlag 2014, S. 80-124, hier 111f.). Wir erinnern damit an die 75. Wiederkehr des Todestages von Josef Weinheber zum heutigen Datum: Er starb am 8. April, dem Weißen Sonntag, des Jahres 1945 um 15 Uhr 30 in seinem Landhaus in Kirchstetten und wurde am 10. April 1945 in seinem Garten am Waldrand zur letzten Ruhe gebettet.

Foto: Das Grabmal Josef Weinhebers am Rande seines Anwesens in Kirchstetten (NÖ), Ansichtskarte, um 1960

 

Josef Weinheber
Ich werde wieder sein, wenn Menschen sind
Eine Auswahl aus dem lyrischen Gesamtwerk
Mit einem Nachwort und einer Lebenschronik herausgegeben von Christoph Fackelmann
Kyrene Literaturverlag, Innsbruck-Wien 2017
Hardcover, 352 Seiten

„Ein Weinheber-Lesebuch für unsere Zeit … Niemand, der eine ernsthafte Beschäftigung mit Weinhebers Dichtung anstrebt, wird an diesem Buch vorbeikommen.“ (Alexander Martin Pfleger, „weltexpresso.de“, 24. 2. 2018)

Aus Anlass des Gedenkjahres:
Restexemplare (neuwertig) der im Buchhandel vergriffenen Auflage zum Sonderpreis von 12,50 Euro (statt 22,50
zuzügl. Porto)
Bestellen Sie bitte direkt über die Josef Weinheber-Gesellschaft (Tel.: +43 [0]2743 8989, E-Mail: weinheberforum@aon.at) oder über die Plattform „Booklooker“.

Arbeitsbegegnungen mit Weinheber

Friedrich Sacher:

ARBEITSBEGEGNUNGEN MIT WEINHEBER

Zum 125. Geburtstag Josef Weinheber veröffentlichen wir auf dem Weinheber-Forum noch einen besonderen Text. Die Erinnerungsliteratur, die sich nach dem frühen Tod des Dichters in nicht geringer Fülle herausbildete, hat nur wenige seinesgleichen. Sein Verfasser ist der niederösterreichische Schriftsteller, Lehrer und Literarhistoriker Friedrich Sacher (1899-1982). Er hat einen besonders einfühlsamen und aufschlußreichen Bericht über seinen Umgang mit Josef Weinheber hinterlassen.

Sacher war seit den frühen dreißiger Jahren ein enger Wegbegleiter Weinhebers, zunächst als dessen Deuter und Vermittler in einer Reihe von literaturkritischen Veröffentlichungen, deren wichtigste, die kleine monographische Studie „Der Lyriker Josef Weinheber“, der Erstauflage von „Adel und Untergang“ (1934) beigegeben war. An dem Zustandekommen dieses Buches, das die erste Ausgabe Weinheberscher Lyrik nach acht verlagslosen Jahren wurde, war Sacher als nimmermüder Fürsprecher maßgeblich beteiligt. Allmählich wurde aus dem distanziert fördernden Eintreten des jüngeren für den älteren Dichter eine wirkliche Freundschaft, und an der immer engeren Vertrautheit mit Weinhebers Kunstauffassungen und den intimen Einsichten in dessen Werkstatt wuchs auch Sachers eigene Künstlerschaft. Es kam zu regelmäßigen Arbeitssitzungen, bei denen eigene und fremde Lyrik erörtert und poetologische Fragen diskutiert wurden. Vor allem in der Anfangszeit beteiligten sich daran auch der Lyriker Franz Staude (1886-1947) und der Literaturkritiker Leopold Liegler (1882-1949), der einstige Biograph und Privatsekretär des von allen vier verehrten Karl Kraus. Friedrich Sacher veranstaltete mehrere verdienstvolle Sammelbücher mit Proben der jungen Lyriker aus seinem Umkreis („Anthologie junger Lyrik aus Österreich“, 1930; „Die Gruppe“, 1932, 1935) und legte in den späten dreißiger Jahren eigene bedeutende Lyrikbücher vor: „Maß und Schranke“ (Josef Weinheber gewidmet), „Mensch in den Gezeiten“ (jeweils 1937), gesammelt und erweitert zu dem „Buch der Mitte“ (1939). Dem letzteren gab Weinheber einen begeisterten Brief und eine sehr lobende Besprechung mit auf den Weg.

Die nachfolgende Reminiszenz „Arbeitsbegegnungen mit Weinheber“ entstand 1950 und wurde zum ersten Mal in dem von Heinrich Zillich herausgegeben Buch „Bekenntnis zu Josef Weinheber. Erinnerungen seiner Freunde“ publiziert. Wir geben sie nach dem betreffenden Band der „Ausgewählten Werke“ von Friedrich Sacher („Die Brunnenstube“, Kremayr & Scheriau 1964, S. 280-284) wieder. Das besondere Flair dieser Erinnerung an der großen Freund ergibt sich aus der Konzentration auf jene Seite Josef Weinhebers, die – hinter all der polternden Anekdotik, die sich sonst mit dessen Namen verband – den Wesenskern der Persönlichkeit ausmachte: das unbedingte, dem Werk und der Sprache hingegebene Künstlertum, dem das schöpferische Nachgrübeln über gestalterische Feinheiten des lyrischen Gedichts an die größten Geheimnisse der Welt und des Menschseins rührte.

 

Zu einem eigentlichen Briefwechsel zwischen Weinheber und mir ist es nicht gekommen. Sobald mich nämlich eine Karte oder ein Brief von ihm erreichte, machte ich mich auf und fuhr zu ihm.

Bis zum Dezember 1934 lebte ich in Klosterneuburg. Wein­heber, der im Postdienst stand, konnte genau abschätzen, wann ich sein Schreiben erhalten werde. Er konnte sicher sein: drei, vier Stunden später saß ich schon neben ihm vor seinem Schreibtisch in Wien.

Unsere Begegnungen damals waren Arbeitsbegegnungen. Es war in den entscheidenden Jahren unmittelbar vor und nach Erscheinen von „Adel und Untergang“, den ertragreichsten Jahren unserer Freundschaft. Jede dieser Begegnungen hatte einen vorbestimmten Zweck.

Als ich kurz vor Weihnachten 1934 nach Wien, in die Nähe von Schönbrunn, übersiedelte, wurde unsere Verbindung noch einfacher. Er rief mich an, und ich fuhr zu ihm in den 3. Bezirk, „auf die Landstraße“, hinüber.

Dann und wann versuchten wir auch, die Lösung eines knifflichen Problems gleich am Telephon zu finden. Ich er­innere mich eines Anrufes, der sage und schreibe einen Bei­strich zum Anlaß und Inhalt hatte. Da wir hüben wie drüben ein jeder immer wieder ein Buch aus der Bibliothek heranhol­ten, der eine wie der andere eine weitere Belegstelle für seine These, mußten wir das Gespräch zweimal verlängern. Wenn ein Außenstehender mitgehört hätte, er hätte uns wohl für verrückt gehalten.

Weinheber wußte von mir, daß ich ein Landkind gewesen, auf dem Lande aufgewachsen war und daß ich auch in Kloster­neuburg jeweils ein Gartenzimmer bewohnte. Nun hatte ich es in Wien zum Glück wieder so gut getroffen, daß ich die Groß­stadt überhaupt nicht verspürte: den Blick vorne hinaus in einen Park, hinten hinaus in zwei Privatgärten und ein Pfarr­gärtlein, in die Sonne, ins Grüne.

Er selber wohnte „in den Steinen“, auf dem kleinen Rudolf-­von-Alt-Platz, an dem ich freilich außer seiner verhältnismäßig großen Stille immer nur den Namen schätzte, weil dieser mich an einen meiner Lieblingsmaler erinnerte. Weinheber hatte es trotzdem vorzüglich verstanden, seine Wohnung innen so gemütlich und ansprechend wie möglich zu gestalten, ein rich­tiges, warmes Daheim für lange Winterabende. Gegen den Umstand allerdings, daß die Wohnung in einen finsteren Schachthof hinausging, vermochte er nichts.

Es beweist nun sein Feingefühl, daß er meine Beklemmung spürte, obwohl sie unausgesprochen blieb, und es beweist sei­nen Herzenstakt, wie er wortlos auf seine Art Abhilfe fand. Unsere Arbeitsbegegnungen im Frühling, Sommer oder Herbst verliefen nämlich meistens so: Ich kam gegen vier Uhr bei ihm an, und wir nahmen mit Frau Hedwig die Jause. Sogleich nach der Jause aber rückten wir aus, wobei wir versprachen, um sieben zum Abendessen wieder daheim zu sein.

Was wir brauchten, nahmen wir mit: etwas Schreibpapier, in diesem und jenem Sack ein Bleistiftstümpfchen, ein paar seiner Gedichte, die wir durchgehen wollten, ein Fachbuch allenfalls, ein kleines Nachschlagewerk oder auch einmal einen neuerschienenen Lyrikband, einen Zeitschriftenaufsatz, Buch­besprechungen, bedeutende Briefe, die er inzwischen erhalten hatte, oder auch einmal gar nichts, wenn wir – während der Jahre seiner Erfolglosigkeit – nur wichtige Pläne zu schmieden hatten, uns darüber klar werden mußten, was jetzt als nächstes in unserem Feldzug gegen die blinde, taube und lahme Offentlichkeit zu geschehen hatte. Daß wir auf unseren Spaziergängen manchmal richtig in Rage kommen konnten und wie die Rohrspatzen zu schimpfen begannen, begreift sich leicht. Wenn wir in solcher Stimmung jemandem begegneten, der uns nicht kannte, mußte er denken: Zwei Aufgeregte! — ­Meistens aber wurde Weinheber von den Leuten in der Nach­barschaft ohnehin erkannt, und die schmunzelten uns dann ihr „Eh-schon-Wissen!“ zu. Wir gingen fast immer denselben Weg aus der Stadt hinaus ins Offene, Freie: die untere Löwengasse hinab und links um die Ecke ein paar Schritte die Rasumofsky­gasse entlang, über die Rotundenbrücke hinüber, und schon waren wir im Grünen, im Prater und Unteren Prater. Wir durchquerten nämlich die Jesuitenwiese, gingen dann am Heu­stadlwasser entlang bis zu dessen Ende, benützten auf dem Rückweg die Hauptallee bis vorn zum Konstantinhügel, dort bogen wir seitwärts ab, und – am Teich mit seinen Booten und Schwänen vorbei – ging’s wieder heimzu über die Rotundenbrücke. Im Wandern und da und dort auf einer Bank, auf einem Baumstamm besprachen und erledigten wir unser Arbeitsvorhaben, genossen wir die von uns zu allen Jahreszeiten geliebte Landschaft. Manche Baumgruppe ließ uns überdies an Alt, an Waldmüller denken.

In den Jahren der Verlassenheit hat sich mir auf diesen zweisamen Wanderungen Weinheber ganz aufgeschlossen. Seine Sorge um das Werk, seine Bitterkeit, sein Trotz, sein Stolz, seine Verzweiflung wurden hier laut. Das für mich Erregend­ste waren die peinigenden Selbstzweifel des großen Künstlers, seine Zwangsvorstellung, ich könne mich mit meiner positiven Beurteilung seiner Lyrik irren, und in Wirklichkeit hätten vielleicht seine Gegner recht, die ihm höchstens ein Dutzend­talent zubilligten und die seine von ihm bisher errungene, ohnehin bescheidene Geltung auch noch einzuschränken trach­teten mit dem Hinweis darauf, daß ihnen dieses oder jenes an seiner Lebensführung mißfalle. Dann war es an mir, seinem wunden Herzen wieder die Ruhe zu geben und dem erschüt­terten Selbstvertrauen mit den Argumenten, die mir zu Gebote standen, wieder aufzuhelfen.

Gegen die Tugendheuchler aber wurde ich heftig. Ein Kunst­werk und das empirische Ich seines Schöpfers seien nicht ein und dasselbe. Obendrein sei unser innerstes Wesen ein Geheim­nis, uns selber verschlossen und schon gar nicht einem anderen erfahrbar, erfaßbar. Unsere letzten Antriebe würden über­haupt nur jenem Einzigen offenbar, der unser Schöpfer und unser aller Richter sei. Außerdem wußte Weinheber, was ich gerade darum von den Lebensbeschreibungen hielt, noch von den besten und umsichtigsten, für wie trügerisch ich die Hoff­nung hielt, daß das fleißige Zusammentragen und Zusammen­setzen von tausend Lebensbruchstücken (ja selbst von allen, wenn uns der Zufall diese bescherte), daß so ein mühsam gesammelter Scherbenberg jemals wieder ein Ganzes oder gar ,,die Wahrheit“ ergebe. Eine Welt aber, die hämisch nur unsere Niederlagen aufzeichnet und von unseren Siegen über uns selbst nicht einen einzigen zur Kennunis nimmt, sei als Rich­terin zu befangen und darum unmaßgeblich. Wenn er, ruhiger geworden, plötzlich stehenblieb und mir stumm die Hand drückte, wußte ich, daß ich ihn hatte etwas trösten dürfen. Mich selbst aber erfüllte dann ein stürmisches Glücksgefühl.

Nun, auf einem solchen Rundgang sind wir aber auch einmal in einer heiteren Angelegenheit übereingekommen. An­fang Juni 1936 waren Weinheher und Frau Hedwig bei mir in Meidling zu Besuch gewesen. Weinheber brachte viele Gedichte mit; denn er legte damals seine „Späte Krone“ zu­sammen. Weinheber las also Gedichte vor. Dieses eine Mal aber entging auch ich meinem Schicksal nicht. Hedwig ließ nicht locker. Sie erklärte es zu meiner Hausherrenpflicht, daß ich nun meinerseits einige Gedichte lese. Bei allen meinen Arbeitsbegegnungen mit Weinheber war nämlich bisher auf meinen Wunsch von mir nicht die Rede gewesen. Ich las also einige wenige meiner neueren Gedichte vor. Darunter auch die „Parabel“. In der Urfassung dieses Gedichtes standen die beiden Verse:

Luft und Duft von Salbei und Kamille
überkroch ihn, selig arm und bloß.

Die Fügung „Salbei und Kamille“ und mein Reimwort „Stille“ wurden in Weinheber zum Keim eines neuen Gedichtes. Ein paar Tage nachher entstand eines der herrlichsten Gedichte in deutscher Sprache, Weinhebers Lied „Im Grase“. In diesem Lied aber war nun das „Salbei und Kamille“ schon rein klanglich ein wesentlicher Bestandteil, ja die Urzelle gewor­den. Was tun? Ich bat, da ich verreiste, Weinheber brieflich, er möge, bis ich wiederkomme, einstweilen darüber nachden­ken, wie wir sein oder mein Gedicht an dieser Stelle ändern könnten. Bei meinem nächsten Besuch und auf unserem ge­wohnten Rundgang trat ich ihm dann den „Salbei“ ab und erklärte, meinen Vers abzuändern in:

Luft und Duft von Minzen und Kamille.

In dieser Fassung nahm ich mein Gedicht in „Maß und Schranke“ und später in „Das Buch der Mitte“ auf. Daheim aber holten wir uns rasch das „Kräuterbüchlein“ aus der „Insel“-Reihe her und blätterten zur Vorsicht nach, ob das mit unserem Wiesenflor wirklich noch alles jahreszeitlich zu­sammenstimme. Damit wir keinen „Plutzer“ machten!

Verlangte jedoch ,eine Arbeit von uns strengste Sammlung und Abgeschlossenheit, wie die gemeinsame Redaktion von „Adel und Untergang“, so blieben wir in den vier Wänden. Dabei verging uns Hören und Sehen für alles andere. Hedwig hatte es dann mit uns nicht leicht. Das schönste Essen wurde ihr zweimal welk und kalt.

In der Nachkriegszeit hin ich einmal an einem Sonntag im Vorfrühling unseren einstigen Rundweg wieder gegangen. Wie machte dieser Weg mich traurig, wo jeder kleine Pfad und jeder alte Baum – Bänke standen nirgends mehr – mich an den toten Freund gemahnten!

Lieblingsgedicht Nummer 10 – „Als ich noch lebte . .“

ALS ICH NOCH LEBTE . .

Jambus (scenicus)

Als ich noch lebte, lag mir das Gewand
des Körpers um wie eine Last, nicht schön
genug erschien mein Wandel, jeder Narr
vermaß sich des Gerichts, der Schwächste noch,
scheeläugiger Bezichtigung nie gram,
erheuchelte an meinem Tun zuletzt
sich seine Tugend, rettete sein Nichts
vor meinem All mit Hinweis auf mein Herz,
das schwach war und geneigt verstehendem Gift . .

Wie zitterte, als ich noch lebte, dies
beklommne Etwas in der Brust, von Furcht
zu Furcht gepeitscht, und tiefer Jahr um Jahr
in Trauer fallend, mitvererbter Schuld
in gleichem Maß anheimgegeben wie
gehäufter Unbill, Menschennot und Krieg,
anheim dem Kummer um die Sprache, die
geschlagen floh, als ich noch lebte, ganz
geschlagen, so, daß keine Zuflucht mehr
sich bot, den Schmerz zu messen, keine Wahl
gestattet war und in das Tier hinab,
das röchelnde, der edle Ruf verfiel . .

Ist von des Sterbens letztem Krampf, der Qual,
die ihm vorausging (allem Menschsein gleich
nahm ich das Kreuz auf mich), ist von dem Tod
noch ein Erinnern? Was so wichtig schien,
als ich noch lebte, bloß ein Augenblick
im Rauschen der Äone, farblos steht
und fern dies Ungefähr im Nachgefühl
des Spätgebornen, der mit meinem Geist
hier Zwiesprach hält, als wäre nichts geschehn
inzwischen: millionenfacher Tod
nach meinem, millionenmal das Leid,
entzündet und verlöscht, und fortgesetzt
menschlicher Würde Kränkung, fortgesetzt
der Täter wilder Irrtum nicht geschehn . .

Wie lange bin ich tot? Wie lange schon
zu kränken nicht in jenem Reich, vor dem
die Brust, als ich noch lebte, Bangen trug?
Ich weiß es nicht. Die mörderische Zeit,
so furchtbar dem, der selbst noch zeitlich ist,
erstarb dem Geist. Der Toten schwebend Maß
ist meins und unzerstörbar hier wie dort.

Von gottgeweihtem Port ist mir erlaubt
zu reden, und es bleibt die Sprache nun
mein ein- und alles. Wie die Toten ja
erst rein die Sprache haben und in ihr
verherrlicht sind. Ich sehne mich nicht mehr
nach andrem. Hier ist Dauer. Hier erst bin
ich sicher mein. Kein klobiger Pirat
verrückt mir mehr den Satz von seinem Ort,
Blut ward Rubin und Träne Diamant,
und aus dem armen Erdenangesicht
wuchs ein Gestirn, verklärend Tag und Traum.

Wer lebte so wie ich? Und pochte so
mit hartem Knöchel an die Wand der Welt
und hätte gegen jede Zeit wie ich
sein randvoll Recht? Als ich noch lebte, mußt’
ich zu den Blumen gehn. Vorüber jetzt.
Von höherer Macht zur Herrschaft eingesetzt,
besteh ich auf der Macht: Ich lebe fort.
Dort war es Nacht. Hier nicht. Hier ist das Wort.

(Entstehungsjahr: 1940; erste Buchveröffentlichung: „Hier ist das Wort“, 1947)