Die Nacht ist groß

Zum 80. Todestag Josef Weinhebers am 8. April 2025

In seinem letzten Brief an Gerda Janota, geschrieben, als der kontinentale Vernichtungskrieg längst auch die engere Heimat verschlungen hatte, kommt Josef Weinheber rückblickend auf sein eigenes Werk zu sprechen und misst es an der geschichtlichen Lage. In einer der berühmten Passagen aus diesem Schreiben vom 9. März 1945 bekennt er:

„Ich habe Adel u[nd] Untergang, (was für ein bezeichnender Buchtitel!!) mit dem Kennwort ,In hora mortis‘ überschrieben. Ich möchte nicht den leisesten Timbre davon zurücknehmen: Alles echt in dieser Zeit Geschriebene ist im Angesicht des Todes geschrieben. Wenn das, was also da geschrieben worden ist, geschrieben werden konnte, so haben wir es wissen müssen. Es steht uns im Grund kein Recht zur Klage – oder gar zur Anklage zu.“

Weinheber begreift das schreckliche Geschehen nicht als eine isolierte Katastrophe. In dem, was aus dem imperialistischen Gegeneinander der europäischen Mächte und aus dem Versinken Deutschlands in Tyrannei, Massenwahn und technizistischen Exzess hervorgegangen war, erblickt er vielmehr nur das unaufhaltsame Produkt eines viel weiter zurückreichenden Übels, welches im Kern geistiger Natur ist. Der Dichter stand mit dieser Überzeugung damals nicht alleine. So notiert etwa Martin Heidegger um 1942/43 im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Heraklit: „Durch Kriege wird nichts entschieden, weil sie selbst bereits auf einer Entscheidung gründen und wiederum, wenn überhaupt auf etwas, nur auf eine ihnen vorgegebene Entscheidung zugehen.“ („Schwarze Hefte“, „Anmerkungen“ I, Nr. 58)

Seinem eigenen Schaffen schreibt Weinheber in Bezug auf diesen tieferen Konflikt eine besondere Hellsichtigkeit zu – ohne sich dessen etwa zu rühmen, sondern von tiefer Trauer gebannt und in der Gewissheit, von den inneren Verwüstungen selbst keineswegs verschont geblieben zu sein. Auch sein eigenes politisches Versagen unter dem Nationalsozialismus spricht er an. Aber er besteht auf der Kraft seiner Gedichte, „vorgewußt“ und „vorausgesagt“ zu haben, und zitiert aus dem Eingangsgedicht seines großen Zyklus „Zwischen Göttern und Dämonen“: „[…] hebt die Vollstreckerhand und gibt das Zeichen. Was zu lösen nimmer erlaubt, es zu tilgen, schlägt er mit Nacht die Stirn – –“.

Und weiter bekundet er:

„Ich habe überhaupt, wenn ich in diesen entscheidenden Tagen mein Werk […] durchgehe, die Empfindung, daß hier Dinge mit einer traumwandlerischen Klarheit gesagt worden sind, wie nie vorher. Du kannst das nachprüfen. Ich bitte Dich […] die Sonette an die Nacht zu lesen. Du wirst sie jetzt anders lesen. Das Gläserne ihrer Diktion (gleichbedeutend mit erkennender Aussage), wird Dir jetzt erst zu Bewußtsein kommen. Auch das Vor-Gedicht dazu: Die Nacht ist groß: „Aufhalten kann ich nicht etc.“ Als ich das alles schrieb, habe ich an dem, was jetzt geschieht, gelitten. Jetzt bin ich gelähmt, vom Leiden nicht mehr gesegnet. Denn: „Was geschieht, lebt wilder denn das Geschaute. Wo ein Herz schlägt, wird es gebrochen. Jede Welt gebiert sich aus Morde.“

Wir scheinen acht Jahrzehnte nach diesen Worten an einem Punkt angelangt, wo uns jenes alte Gebrechen des europäischen Menschen erneut heimzusuchen begonnen hat – verschleppte und vertuschte „Geschlechtskrankheiten geistiger Art“ nennt es Weinheber in jenem Brief. Sie waren mit dem Ende des Weltkriegs keineswegs überwunden, nur vorübergehend zur Erschöpfung gelangt. Das mehrdeutige Leitmotiv der „Nacht“ kreist in Weinhebers Lyrik um den „metaphysischen“ Faktor dieses Prozesses. Dass mittlerweile das „Denken“ in den Kategorien der „nackten End-Tat“, der Ungeist der „Liquidierung“, vor dem den lebensmüden Dichter damals schauderte, wieder zum guten Ton der politischen Auseinandersetzung unter den europäischen Nationen gehört, lässt Ungeheuerliches ahnen. Und wären es nur unsere Eliten, deren bellizistische Phrasen uns wie Wiedergänger aus finstersten Zeiten tönen, so wären es doch unsere Eliten, Fleisch von unserem Fleisch …

Im Gedenken an den Todestag des Dichters, der sich am 8. April 2025 zum achtzigsten Mal jährt, lassen wir hier jene Gedichte sprechen, die Weinheber damals zu Zeugen heranzog. Man prüfe sie auf ihr Gewicht und sich an ihm! (C. F.)

Zwischen Göttern und Dämonen I/1

Wie durft er hoffen, daß ihn die Götter jetzt
noch nähmen, wo er frevelnd sie totgesagt?
Und lebten sie, wer kann denn gegen
ihre geheimen Gesetze aufstehn?

Sie sind nicht mehr? Und sehen doch ehern zu,
wie jener hertritt vor die zerstörte Burg,
das Lob der Menge um die einstens
stolzen, von Ehrgier entweihten Schläfen?

Und einer ihrer, welchen sie dunklen Munds
den Löser nennen, hebt die Vollstreckerhand
und gibt das Zeichen. Was zu lösen
nimmer erlaubt, es zu tilgen, schlägt er

mit Nacht die Stirn. Heimfällt sie vor ihrer Zeit.
Den Göttern ist genügt, den Dämonen auch.
Es siegelt ein gewesnes Haupt der
Lorbeer. Die Menge bemerkt es nicht mehr.

(15.6.1937)

An die Nacht XIII

Du stillst die Träne? Wiegst das Mühsal ein?
O Selbstverrat, o kindlicher Betrug!
Du bist nicht die, die täglich kommt und klein:
Begehrte Gabe, wechselnd mit Entzug.

Was geht mein Ich dich an, verstört, allein?
Das bist du nicht, das bist du nicht genug!
Nein, allen Abendvölkern wirst du sein
die blutige Sichel und der schwarze Pflug.

Wenn du erst kommst, wird Jammer riesenhaft
und dir gemäß an deiner Stelle gehn;
dir zu entrinnen, Wilde, ist kein Ort.

Du schlägst das Elend und du schlägst die Kraft,
du eilst, den Ungerechten wegzumähn
und nimmst vom Edlen Schmach und Ekel fort.

XIV

Ja, nimmst vom Edlen Schmach und Ekel fort,
doch gibst ihm keine Hoffnung, es zu wenden.
Verdorrt wird sein, was uns berief, verdorrt
die Liebe in des Menschen klammen Händen.

Des wüsten Kain vorbestimmter Mord
am Bruder wird den hellen Abel enden.
Und so erfüllt sich das geheime Wort:
Er wird den Schoß, der ihn getragen, schänden.

Wer könnte annoch dich besingen, Nacht?
Ich habe dich geschaut und dich bedacht.
Mich hat das große Grauen stumm gemacht.

O Nacht, die schrecklich in mein Dunkel schreit!
O Nacht, die mich mit Lust zum Ende weiht!
O Nacht, du holde, wenn auch finstre Zeit!

(24./25. 3. 1936)

Die Nacht ist groß

Die Nacht ist groß. Ich stehe und verrichte
den Dienst im aufgelösten Heiligtume.
Die Nacht ist groß. Ich leide die Gesichte
und sage sie, dem dunklen Gott zum Ruhme.

Die Nacht ist groß. Verfallen dem Gerichte,
zerstörten sie den Glanz der letzten Blume.
Die Nacht ist groß. Ich stehe und verrichte
den Dienst im leergewordnen Heiligtume.

Aufhalten kann ich nicht. Jedoch ich sehe
wie keiner, der da lebt, die Rächer schreiten.
Die Nacht ist groß. Die schwarzen Schleier wallen.

Mein Teil ist: Unberührt vom eignen Wehe
und jeder Hoffnung fern, dem zornbereiten
Ratschluß der Götter in den Schoß zu fallen.

(8.7.1935)

Sache des Sängers

Teil des Helden ist es, zu sterben; wie es
Teil des Knechts ist, zu bleiben. Ihm indessen,
dem ein tieferes Leiden
unsre Gestirne enthüllt,

ist verhängt der Ruf, die Klage, die Mahnung.
Und der Seher düstrer Gesichte prüft am
Leid, das folgt, seine Gabe,
mißt seinen bittern Triumph:

„Was geschieht, lebt wilder denn das Geschaute.
Wo ein Herz schlägt, wird es gebrochen. Jede
Welt gebiert sich aus Morde.
Und: Die Vergänglichkeit siegt.“

Ihm befiehlt zu reden die Trauer, ihm der
Würde Hingang zu weinen; stet und ob auch
jener Stimm oder Träne
Kranz in die Finsternis fällt.

(31.6. – 2.7.1934)

Elegie auf den Tod Josef Weinhebers

Josef Weber
Märzelegie
An Josef Weinheber
(1947)

Schlenderten durch deinen Garten
vorfrühlings: Märzbecher, Primeln, Narzissen –
gingen von Baum zu Baum – Seelen,
viele des Abendlands standen
anders, dunkeln blühende Gärten,
in dem Abglanz des Abends
unsrer Gespräche.
Oft wie geronnenes Blut
stockte das Wort
schwarzrot wie die Äste,
die du gärtnerisch rauh,
aber lieb-kostest,
die von deiner so vielen,
hoffnungsvielen Mühe gereinigt,
prahlten, dem Tode geschmückt.

Ich sah dieses besorgt,
vorbedacht mehr noch.
Ordnung – damals erfuhr ichs –
war deines Geistes Lust
und die Lust deiner Hände,
aber die Seele ganz voll der
ungeheuren Vergeblichkeit
alles des Schönen.

Sahen: die Große, die Kunst, saß
wie ein Kind in den Trümmern,
schwarze Flüge ums Haupt,
um das unverwesliche.
Doch ihre Schwester Natur?
Tränen knospeten überall
in dem Gezweig, sie spielte,
schwieg, sang und ihre Meisen
schellten ein Frühjahr heran,
ein enterbtes.

O, das Abendland spiegelte
in deines Brunnens schwarzem Kristall
einmal noch ganz sich, ein letztes
schmerzvolles mal –
dann erlosch es.

Sanft ist das Land noch – ich weiß es –
immer noch sanft um den
unverstorbenen Garten,
ob es die Weizenbürde erträgt
oder ob es leise frohlockt
mit Disteln und Mohnen.
Aber nun hat es härtere Würde:
Es birgt dein Grab.

Dieses nachgelassene Gedicht des niederösterreichischen Arztes und Schriftstellers Josef Weber (eigentl. Josef Wenzlitzke, 1892-1969) erfuhr durch Ralf Gnosa seine Erstveröffentlichung im Rahmen des schönen, verdienstvollen Aufsatzes „Josef Weber und Josef Weinheber“ (Literaturwissenschaftliche Jahresgabe der Josef Weinheber-Gesellschaft N. F. 2010/2011/2012, Wien-Berlin: LIT Verlag 2014, S. 80-124, hier 111f.). Wir erinnern damit an die 75. Wiederkehr des Todestages von Josef Weinheber zum heutigen Datum: Er starb am 8. April, dem Weißen Sonntag, des Jahres 1945 um 15 Uhr 30 in seinem Landhaus in Kirchstetten und wurde am 10. April 1945 in seinem Garten am Waldrand zur letzten Ruhe gebettet.

Foto: Das Grabmal Josef Weinhebers am Rande seines Anwesens in Kirchstetten (NÖ), Ansichtskarte, um 1960

 

Josef Weinheber
Ich werde wieder sein, wenn Menschen sind
Eine Auswahl aus dem lyrischen Gesamtwerk
Mit einem Nachwort und einer Lebenschronik herausgegeben von Christoph Fackelmann
Kyrene Literaturverlag, Innsbruck-Wien 2017
Hardcover, 352 Seiten

„Ein Weinheber-Lesebuch für unsere Zeit … Niemand, der eine ernsthafte Beschäftigung mit Weinhebers Dichtung anstrebt, wird an diesem Buch vorbeikommen.“ (Alexander Martin Pfleger, „weltexpresso.de“, 24. 2. 2018)

Aus Anlass des Gedenkjahres:
Restexemplare (neuwertig) der im Buchhandel vergriffenen Auflage zum Sonderpreis von 12,50 Euro (statt 22,50
zuzügl. Porto)
Bestellen Sie bitte direkt über die Josef Weinheber-Gesellschaft (Tel.: +43 [0]2743 8989, E-Mail: weinheberforum@aon.at) oder über die Plattform „Booklooker“.

Arbeitsbegegnungen mit Weinheber

Friedrich Sacher:

ARBEITSBEGEGNUNGEN MIT WEINHEBER

Zum 125. Geburtstag Josef Weinheber veröffentlichen wir auf dem Weinheber-Forum noch einen besonderen Text. Die Erinnerungsliteratur, die sich nach dem frühen Tod des Dichters in nicht geringer Fülle herausbildete, hat nur wenige seinesgleichen. Sein Verfasser ist der niederösterreichische Schriftsteller, Lehrer und Literarhistoriker Friedrich Sacher (1899-1982). Er hat einen besonders einfühlsamen und aufschlußreichen Bericht über seinen Umgang mit Josef Weinheber hinterlassen.

Sacher war seit den frühen dreißiger Jahren ein enger Wegbegleiter Weinhebers, zunächst als dessen Deuter und Vermittler in einer Reihe von literaturkritischen Veröffentlichungen, deren wichtigste, die kleine monographische Studie „Der Lyriker Josef Weinheber“, der Erstauflage von „Adel und Untergang“ (1934) beigegeben war. An dem Zustandekommen dieses Buches, das die erste Ausgabe Weinheberscher Lyrik nach acht verlagslosen Jahren wurde, war Sacher als nimmermüder Fürsprecher maßgeblich beteiligt. Allmählich wurde aus dem distanziert fördernden Eintreten des jüngeren für den älteren Dichter eine wirkliche Freundschaft, und an der immer engeren Vertrautheit mit Weinhebers Kunstauffassungen und den intimen Einsichten in dessen Werkstatt wuchs auch Sachers eigene Künstlerschaft. Es kam zu regelmäßigen Arbeitssitzungen, bei denen eigene und fremde Lyrik erörtert und poetologische Fragen diskutiert wurden. Vor allem in der Anfangszeit beteiligten sich daran auch der Lyriker Franz Staude (1886-1947) und der Literaturkritiker Leopold Liegler (1882-1949), der einstige Biograph und Privatsekretär des von allen vier verehrten Karl Kraus. Friedrich Sacher veranstaltete mehrere verdienstvolle Sammelbücher mit Proben der jungen Lyriker aus seinem Umkreis („Anthologie junger Lyrik aus Österreich“, 1930; „Die Gruppe“, 1932, 1935) und legte in den späten dreißiger Jahren eigene bedeutende Lyrikbücher vor: „Maß und Schranke“ (Josef Weinheber gewidmet), „Mensch in den Gezeiten“ (jeweils 1937), gesammelt und erweitert zu dem „Buch der Mitte“ (1939). Dem letzteren gab Weinheber einen begeisterten Brief und eine sehr lobende Besprechung mit auf den Weg.

Die nachfolgende Reminiszenz „Arbeitsbegegnungen mit Weinheber“ entstand 1950 und wurde zum ersten Mal in dem von Heinrich Zillich herausgegeben Buch „Bekenntnis zu Josef Weinheber. Erinnerungen seiner Freunde“ publiziert. Wir geben sie nach dem betreffenden Band der „Ausgewählten Werke“ von Friedrich Sacher („Die Brunnenstube“, Kremayr & Scheriau 1964, S. 280-284) wieder. Das besondere Flair dieser Erinnerung an der großen Freund ergibt sich aus der Konzentration auf jene Seite Josef Weinhebers, die – hinter all der polternden Anekdotik, die sich sonst mit dessen Namen verband – den Wesenskern der Persönlichkeit ausmachte: das unbedingte, dem Werk und der Sprache hingegebene Künstlertum, dem das schöpferische Nachgrübeln über gestalterische Feinheiten des lyrischen Gedichts an die größten Geheimnisse der Welt und des Menschseins rührte.

 

Zu einem eigentlichen Briefwechsel zwischen Weinheber und mir ist es nicht gekommen. Sobald mich nämlich eine Karte oder ein Brief von ihm erreichte, machte ich mich auf und fuhr zu ihm.

Bis zum Dezember 1934 lebte ich in Klosterneuburg. Wein­heber, der im Postdienst stand, konnte genau abschätzen, wann ich sein Schreiben erhalten werde. Er konnte sicher sein: drei, vier Stunden später saß ich schon neben ihm vor seinem Schreibtisch in Wien.

Unsere Begegnungen damals waren Arbeitsbegegnungen. Es war in den entscheidenden Jahren unmittelbar vor und nach Erscheinen von „Adel und Untergang“, den ertragreichsten Jahren unserer Freundschaft. Jede dieser Begegnungen hatte einen vorbestimmten Zweck.

Als ich kurz vor Weihnachten 1934 nach Wien, in die Nähe von Schönbrunn, übersiedelte, wurde unsere Verbindung noch einfacher. Er rief mich an, und ich fuhr zu ihm in den 3. Bezirk, „auf die Landstraße“, hinüber.

Dann und wann versuchten wir auch, die Lösung eines knifflichen Problems gleich am Telephon zu finden. Ich er­innere mich eines Anrufes, der sage und schreibe einen Bei­strich zum Anlaß und Inhalt hatte. Da wir hüben wie drüben ein jeder immer wieder ein Buch aus der Bibliothek heranhol­ten, der eine wie der andere eine weitere Belegstelle für seine These, mußten wir das Gespräch zweimal verlängern. Wenn ein Außenstehender mitgehört hätte, er hätte uns wohl für verrückt gehalten.

Weinheber wußte von mir, daß ich ein Landkind gewesen, auf dem Lande aufgewachsen war und daß ich auch in Kloster­neuburg jeweils ein Gartenzimmer bewohnte. Nun hatte ich es in Wien zum Glück wieder so gut getroffen, daß ich die Groß­stadt überhaupt nicht verspürte: den Blick vorne hinaus in einen Park, hinten hinaus in zwei Privatgärten und ein Pfarr­gärtlein, in die Sonne, ins Grüne.

Er selber wohnte „in den Steinen“, auf dem kleinen Rudolf-­von-Alt-Platz, an dem ich freilich außer seiner verhältnismäßig großen Stille immer nur den Namen schätzte, weil dieser mich an einen meiner Lieblingsmaler erinnerte. Weinheber hatte es trotzdem vorzüglich verstanden, seine Wohnung innen so gemütlich und ansprechend wie möglich zu gestalten, ein rich­tiges, warmes Daheim für lange Winterabende. Gegen den Umstand allerdings, daß die Wohnung in einen finsteren Schachthof hinausging, vermochte er nichts.

Es beweist nun sein Feingefühl, daß er meine Beklemmung spürte, obwohl sie unausgesprochen blieb, und es beweist sei­nen Herzenstakt, wie er wortlos auf seine Art Abhilfe fand. Unsere Arbeitsbegegnungen im Frühling, Sommer oder Herbst verliefen nämlich meistens so: Ich kam gegen vier Uhr bei ihm an, und wir nahmen mit Frau Hedwig die Jause. Sogleich nach der Jause aber rückten wir aus, wobei wir versprachen, um sieben zum Abendessen wieder daheim zu sein.

Was wir brauchten, nahmen wir mit: etwas Schreibpapier, in diesem und jenem Sack ein Bleistiftstümpfchen, ein paar seiner Gedichte, die wir durchgehen wollten, ein Fachbuch allenfalls, ein kleines Nachschlagewerk oder auch einmal einen neuerschienenen Lyrikband, einen Zeitschriftenaufsatz, Buch­besprechungen, bedeutende Briefe, die er inzwischen erhalten hatte, oder auch einmal gar nichts, wenn wir – während der Jahre seiner Erfolglosigkeit – nur wichtige Pläne zu schmieden hatten, uns darüber klar werden mußten, was jetzt als nächstes in unserem Feldzug gegen die blinde, taube und lahme Offentlichkeit zu geschehen hatte. Daß wir auf unseren Spaziergängen manchmal richtig in Rage kommen konnten und wie die Rohrspatzen zu schimpfen begannen, begreift sich leicht. Wenn wir in solcher Stimmung jemandem begegneten, der uns nicht kannte, mußte er denken: Zwei Aufgeregte! — ­Meistens aber wurde Weinheber von den Leuten in der Nach­barschaft ohnehin erkannt, und die schmunzelten uns dann ihr „Eh-schon-Wissen!“ zu. Wir gingen fast immer denselben Weg aus der Stadt hinaus ins Offene, Freie: die untere Löwengasse hinab und links um die Ecke ein paar Schritte die Rasumofsky­gasse entlang, über die Rotundenbrücke hinüber, und schon waren wir im Grünen, im Prater und Unteren Prater. Wir durchquerten nämlich die Jesuitenwiese, gingen dann am Heu­stadlwasser entlang bis zu dessen Ende, benützten auf dem Rückweg die Hauptallee bis vorn zum Konstantinhügel, dort bogen wir seitwärts ab, und – am Teich mit seinen Booten und Schwänen vorbei – ging’s wieder heimzu über die Rotundenbrücke. Im Wandern und da und dort auf einer Bank, auf einem Baumstamm besprachen und erledigten wir unser Arbeitsvorhaben, genossen wir die von uns zu allen Jahreszeiten geliebte Landschaft. Manche Baumgruppe ließ uns überdies an Alt, an Waldmüller denken.

In den Jahren der Verlassenheit hat sich mir auf diesen zweisamen Wanderungen Weinheber ganz aufgeschlossen. Seine Sorge um das Werk, seine Bitterkeit, sein Trotz, sein Stolz, seine Verzweiflung wurden hier laut. Das für mich Erregend­ste waren die peinigenden Selbstzweifel des großen Künstlers, seine Zwangsvorstellung, ich könne mich mit meiner positiven Beurteilung seiner Lyrik irren, und in Wirklichkeit hätten vielleicht seine Gegner recht, die ihm höchstens ein Dutzend­talent zubilligten und die seine von ihm bisher errungene, ohnehin bescheidene Geltung auch noch einzuschränken trach­teten mit dem Hinweis darauf, daß ihnen dieses oder jenes an seiner Lebensführung mißfalle. Dann war es an mir, seinem wunden Herzen wieder die Ruhe zu geben und dem erschüt­terten Selbstvertrauen mit den Argumenten, die mir zu Gebote standen, wieder aufzuhelfen.

Gegen die Tugendheuchler aber wurde ich heftig. Ein Kunst­werk und das empirische Ich seines Schöpfers seien nicht ein und dasselbe. Obendrein sei unser innerstes Wesen ein Geheim­nis, uns selber verschlossen und schon gar nicht einem anderen erfahrbar, erfaßbar. Unsere letzten Antriebe würden über­haupt nur jenem Einzigen offenbar, der unser Schöpfer und unser aller Richter sei. Außerdem wußte Weinheber, was ich gerade darum von den Lebensbeschreibungen hielt, noch von den besten und umsichtigsten, für wie trügerisch ich die Hoff­nung hielt, daß das fleißige Zusammentragen und Zusammen­setzen von tausend Lebensbruchstücken (ja selbst von allen, wenn uns der Zufall diese bescherte), daß so ein mühsam gesammelter Scherbenberg jemals wieder ein Ganzes oder gar ,,die Wahrheit“ ergebe. Eine Welt aber, die hämisch nur unsere Niederlagen aufzeichnet und von unseren Siegen über uns selbst nicht einen einzigen zur Kennunis nimmt, sei als Rich­terin zu befangen und darum unmaßgeblich. Wenn er, ruhiger geworden, plötzlich stehenblieb und mir stumm die Hand drückte, wußte ich, daß ich ihn hatte etwas trösten dürfen. Mich selbst aber erfüllte dann ein stürmisches Glücksgefühl.

Nun, auf einem solchen Rundgang sind wir aber auch einmal in einer heiteren Angelegenheit übereingekommen. An­fang Juni 1936 waren Weinheher und Frau Hedwig bei mir in Meidling zu Besuch gewesen. Weinheber brachte viele Gedichte mit; denn er legte damals seine „Späte Krone“ zu­sammen. Weinheber las also Gedichte vor. Dieses eine Mal aber entging auch ich meinem Schicksal nicht. Hedwig ließ nicht locker. Sie erklärte es zu meiner Hausherrenpflicht, daß ich nun meinerseits einige Gedichte lese. Bei allen meinen Arbeitsbegegnungen mit Weinheber war nämlich bisher auf meinen Wunsch von mir nicht die Rede gewesen. Ich las also einige wenige meiner neueren Gedichte vor. Darunter auch die „Parabel“. In der Urfassung dieses Gedichtes standen die beiden Verse:

Luft und Duft von Salbei und Kamille
überkroch ihn, selig arm und bloß.

Die Fügung „Salbei und Kamille“ und mein Reimwort „Stille“ wurden in Weinheber zum Keim eines neuen Gedichtes. Ein paar Tage nachher entstand eines der herrlichsten Gedichte in deutscher Sprache, Weinhebers Lied „Im Grase“. In diesem Lied aber war nun das „Salbei und Kamille“ schon rein klanglich ein wesentlicher Bestandteil, ja die Urzelle gewor­den. Was tun? Ich bat, da ich verreiste, Weinheber brieflich, er möge, bis ich wiederkomme, einstweilen darüber nachden­ken, wie wir sein oder mein Gedicht an dieser Stelle ändern könnten. Bei meinem nächsten Besuch und auf unserem ge­wohnten Rundgang trat ich ihm dann den „Salbei“ ab und erklärte, meinen Vers abzuändern in:

Luft und Duft von Minzen und Kamille.

In dieser Fassung nahm ich mein Gedicht in „Maß und Schranke“ und später in „Das Buch der Mitte“ auf. Daheim aber holten wir uns rasch das „Kräuterbüchlein“ aus der „Insel“-Reihe her und blätterten zur Vorsicht nach, ob das mit unserem Wiesenflor wirklich noch alles jahreszeitlich zu­sammenstimme. Damit wir keinen „Plutzer“ machten!

Verlangte jedoch ,eine Arbeit von uns strengste Sammlung und Abgeschlossenheit, wie die gemeinsame Redaktion von „Adel und Untergang“, so blieben wir in den vier Wänden. Dabei verging uns Hören und Sehen für alles andere. Hedwig hatte es dann mit uns nicht leicht. Das schönste Essen wurde ihr zweimal welk und kalt.

In der Nachkriegszeit hin ich einmal an einem Sonntag im Vorfrühling unseren einstigen Rundweg wieder gegangen. Wie machte dieser Weg mich traurig, wo jeder kleine Pfad und jeder alte Baum – Bänke standen nirgends mehr – mich an den toten Freund gemahnten!