DEM KOMMENDEN MENSCHEN
Darf ich reden von dem, der kommt? Aber wie denn
nenn ich seinen verborgenen Namen? Ich, ein
Mensch unter Menschen, anfällig, immer
hin am Abgrund, einsam und wehrlos
vor dem Wirrsal der Welt, das schwarz in mich einbricht
wie in verlassnes Haus ein Rudel von Räubern?
Darf denn reden, wer strauchelt, reden
wer noch sucht? Und wer irrt, an die Stelle
Gottes treten und sagen: Dies will ich?
Ja, mit dem Recht des Gefangenen, der nach
Freiheit weint, beschwör ich die Freiheit,
mit dem Ruf der Sehnsucht den Traum, und
mit des Gemarterten Klage die ferne
Ordnung der Güte.
Mit dem Rechte dessen, der leidet – 0, dem
einen Recht, das der Nacht widersteht und an andern
Ufern wohnt, an den Wassern der Reinheit –
mit des Dulders göttlichem Anspruch verlang ich
nach dem Herbste der Qual, der lebendigen
Frucht und Kelter der Bitternis, Amen.
Sollen wir hungern? Und immer
sagt man den Kommenden: Hungert?
Sollen wir frieren und sein ohne Stube? Und wieder
wankt uns der Boden, birst das Dach überm Haupte,
und die Heimat, traumhaft geschaut, sie ist nicht,
nicht in den hundert Namen, den rühmlich gereichten?
Sollen wir sterben, immer
wieder hingehn und sterben? Und keiner
löscht von unsern Malen die schreckliche Inschrift: „Vergeblich?“
Was ich leide, leiden wir alle. Und darum
red ich: Welcher die Sprache
hat, dem geziemt es, zu reden für alle.
Frevle ich, so freveln wir alle. Gelingt mir
aber das Wort, so lös und erlös ich
aus dem Verlust. Kein Kranz ist mir nötig.
Tief und in jede
Armut sind wir gefallen; verwiesen
auf das Letzte in uns: Zu stehen,
uns zu besinnen, zu behaupten den Rest: die
arme Würde des Menschen.
Nicht Vergehens Muß und nicht Werdens
Wucher ist unsre Not: Die Gewalten sind gütig
jeglicher Ehrfurcht.
Wir jedoch,
wir übersprangen die Ordnung, setzten
neu ein Standbild, unsres der Hoffart, teilten
in Besiegte und Sieger. Aber
er, der da kommt, wird sich beugen.
Gräßlicher „Herr der Erde“, wer bist du?
Seht, er redet von Gott und zertritt seinen Nächsten
wie er die Blume zertritt, und vermag nichts
gegen die eigne Erfindung, gegen
alle den Fluch des
Abfalls, der ihn berauscht und vernichtet.
Hilflos seine Vermessenheit, hilflos
seine Flucht vor dem Schrecken, schrecklich
aber sein letzter Ratschluß : Gewalt.
Red’ er nicht von Gott oder Göttern. Beide
sind nicht außerhalb unser. Ach, wen erhöhen
denn noch Tempel, da wo die Kirchen
nicht zu retten vermögen?
Vor seine Gier gespannt, mit Pomp und Gesängen
nährt er Gott oder Götter. Über
sich hinaus befestigt er sie, denn mehr und
anderweit als ihre Schöpfung
nimmt er sein Eignes für göttlich.
Mensch der Mitte, dich sing ich!
Zwischen Elend und Prunk, Empörung und Dulden
wirst du zurückgehn in dich, ein Ebenbild Gottes.
Ruhend in dir,
werden die Dinge beruhn und werden dich lieben,
und beglückt wirst du sein in der
Kraft des Befreiten, und dienen.
Komm uns, Kommender! Mit dem Recht des Gefangnen,
der nach Freiheit weint, beschwör ich die Freiheit,
mit dem Ruf der Sehnsucht den Traum und
mit des Gemarterten Klag’ die ferne
Ordnung der Güte.
Mit dem Rechte dessen, der leidet – oh, dem
einen Recht, das der Macht widersteht und an andern
Ufern wohnt, an den Wassern der Reinheit –
mit des Dulders göttlichem Anspruch verlang ich
nach dem Ende der Qual, der lebendigen
Frucht und Kelter der Bitternis, Amen.
(Entstehungsjahr: 1935; erste Buchveröffentlichung: „Späte Krone“, 1936)
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