Jahresbericht 2016/ Programmausblick 2017

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freunde der Josef Weinheber-Gesellschaft!

Das Werk Josef Weinhebers hatte in den letzten Jahren keinen leichten Stand bei der Literaturwissenschaft. Rar waren solche Erwähnungen, die einigermaßen ernst und mit Substanz an die Erscheinung des österreichischen Dichters herangingen, zahlreicher die Fälle, in denen bloß die bereits eingespielten Klassifizierungen wiederholt wurden, verbunden mit Vorurteilen und Verkürzungen, die ein nicht geringes Maß an Ignoranz gegenüber den wirklichen Sachverhalten, aber auch gegenüber den Leistungen der Weinheber-Philologie in engeren Sinn verrieten. Bei Nennungen und kürzeren Einlassungen im Rahmen von Literaturgeschichten – zuletzt etwa zu beobachten bei einer Anzahl von neuen einbändigen Darstellungen der Literaturgeschichte Österreichs – mag das hinzunehmen sein, weil Differenzierung und genaueres Hinsehen sich von Haus aus nur schwer mit dem Anspruch solcher Überblicksbeschreibungen verbinden lassen. Dennoch ist es bedauerlich, dass diese das Niveau der massenmedialen Stellungnahmen im „Fall Weinheber“ nicht wesentlich überschreiten.

Umso mehr erfreut es, dass zuletzt auch gründlichere und um größere Sachlichkeit bemühte Versuche zu verzeichnen sind, sich historiographisch mit Josef Weinheber auseinanderzusetzen. Wir verweisen auf ein kleines Forschungsvorhaben des englischen Musikhistorikers Matthew Werley (Cambridge, derzeit Richard-Strauss-Institut Garmisch-Partenkirchen), das den Beziehungen zwischen Josef Weinheber und dem Komponisten Richard Strauss (1864–1949) in den vierziger Jahren nachspürt und hier eine Lücke in der Lebens- und Schaffensgeschichte beider Künstler schließen kann. Der Aufsatz wird unter dem Titel „Ach, wie hatten jene Zeiten Kraft“. Erinnerungskultur, Landschaft und Richard Straussʼ „Blick vom oberen Belvedere“ in dem Sammelband Richard Strauss – der Komponist und sein Werk. Überlieferung, Interpretation, Rezeption, herausgegeben von Sebastian Bolz und Hartmut Schick (München: Allierta Verlag), erscheinen.

Strauss hat nicht nur zwei Gedichte Weinhebers vertont („Blick vom oberen Belvedere“ und „Sankt Michael“, beide aus Anlass des 50. Geburtstags des Dichters, 1942). Für eines der letzten großen Kompositionsvorhaben von Strauss, die symphonische Dichtung „Die Donau“, hätte Weinhebers „Terzinen auf Wien“ (1940) gar eine Schlüsselrolle – als Chorvertonung im Finale – zukommen sollen. Leider blieb dieses Werk unvollendet. Am 27. 4. 1943 übersandte Weinheber Strauss eine weitere Dichtung, die „Symphonischen Beichte“ (im Mai 1942 entstanden, später aufgenommen in „Hier ist das Wort“, 1944/47), und bemerkte dazu: „Ich habe mir gedacht, dieses Gedicht könnte Ihnen vielleicht die Grundlage zu einem musikalischen Werke bieten, weil es sich mit der menschlichen Seele als Musik befaßt“ (Der Strom der Töne trug mich fort. Die Welt um Richard Strauss in Briefen. Hrg.: Franz Grasberger. Tutzing 1967, S. 416). Darauf antwortet das einzige Schreiben Straussʼ an Weinheber, das sich im Nachlass erhalten hat:

„Sehr verehrter lieber Herr Weinheber! Herzlichen Dank für Ihre schönen Dichtungen! Aber mit dem Componieren steht es schlecht. Meine arme Frau war recht krank, ist aber auf dem Wege der Genesung! Mit der ,Donauʻ u. ihren prächtigen Terzinen auf Wien willʼs gar nicht vorwärtsgehen! […]“ (8. 5. 1943).

Weinheber hat dem Tondichter zu dessen 80. Geburtstag im Jahr 1944 das Gedicht „Für Richard Strauss“ gewidmet (ebenfalls aufgenommen in „Hier ist das Wort“).

Ein zweiter, jüngst publizierter Aufsatz widmet sich „Im Grase“, einem der berühmtesten Gedichte Josef Weinhebers (enthalten in „Späte Krone“, 1936). Schon eine stattliche Reihe von Historikern und Literaturkundigen hat sich diesem Text interpretatorisch anzunähern versucht. Rainer Hillenbrand, Germanist an der Universität Pécs (Fünfkirchen, Ungarn), hat mit seiner Studie Weinhebers „Im Grase“ als poetische Erinnerung an das Vergessen eine sehr lesenswerte Deutung hinzugefügt. Positiv fällt schon der gelassene Duktus auf, der die gewisse Hysterie, welche die ideologiekritische Mode in den germanistischen Umgang mit Zeugnissen aus dieser Epoche eingeführt hat, nüchtern und entschieden vermeidet und den Text als Kunstwerk ernst nimmt. Vorurteile und Stereotype, die sich im Umgang der Germanistik mit Weinhebers Werk eingebürgert haben, werden unbefangen als das, was sie sind, benannt. Auch die Beobachtungen, die Hillenbrand zur Traditionsverortung des Weinheber-Textes anstellt, leuchten in vielen Fällen ein. Der Gedanke, das Gedicht von Sujet und Topik her vor dem Hintergrund von „Erinnerungswissen“ und „Gedächtnis“ zu erschließen, erscheint wirklich fruchtbar und berechtigt: sowohl was das Textgefüge, den Vorstellungsaufbau betrifft – wo Weinheber „formale Kunst mit sinnlicher Anschaulichkeit verbindet“ – als auch im Hinblick auf dessen „variierende und weiterführende“ Verzahnung mit der motivgeschichtlichen Überlieferung. Mancher bislang unbeachtete Hinweis, insbesondere auf mögliche Quellen aus dem Volks-, Kirchen- und Kunstliedschatz, ist bedenkenswert; frappierend z. B. der Bezug auf das Gedicht „Feldeinsamkeit“ von Hermann Allmers, bekannt durch die Vertonung von Johannes Brahms:

„Ich ruhe still im hohen, grünen Gras
Und sende lange meinen Blick nach oben,
Von Grillen rings umschwirrt ohnʼ Unterlaß,
Von Himmelsbläue wundersam umwoben.

Die schönen, weißen Wolken ziehn dahin
Durchʼs tiefe Blau, wie schöne stille Träume; –
Mir ist, als ob ich längst gestorben bin,
Und ziehe selig mit durch ewʼge Räume.“

Es geht, der Weinheberschen Kunstauffassung entsprechend, nicht darum, außergewöhnliche und neue Metaphern zu finden. In „Im Grase“ sind sie vielmehr „in hohem Maße traditionell. Originell aber ist ihre Kombination“, also die Art und Weise, wie der Dichter gestalterisch mit den vorgefundenen und übernommenen Sprachbildern verfährt, um eine ihm gemäße Symbolsituation zu entfalten. Der ideell-weltanschaulichen Deutung der im Gedicht gestalteten „Erlösung vom Leid des Bewußtseins durch Schlaf und Tod“, wie sie Hillenbrand unterbreitet, ist nachdrücklich zuzustimmen.

Die Studie ist in dem vom Verfasser selbst herausgegebenen Tagungsband Erinnerungskultur. Poetische, kulturelle und politische Erinnerungsphänomene in der deutschen Literatur („Pécser Studien zur Germanistik“, Bd. 7; Wien: Praesens Verlag 2015) enthalten. Wir hoffen, sie in einem der nächsten Bände unserer „Literaturwissenschaftlichen Jahresgabe“ für die Weinheber-Freunde nachdrucken zu können.

Daran lassen sich gleich ein paar Bemerkungen zu der aktuellen Publikationstätigkeit der Josef Weinheber-Gesellschaft anschließen: Im letzten Jahresbericht wurde bereits ein neuer Band unserer „Literaturwissenschaftlichen Jahresgabe“ angekündigt, in dem der Schwerpunkt auf den mit Weinheber verbundenen Dichter Hans Leifhelm gelegt werden soll. Im vergangenen Herbst, am 9. Oktober 2016, widmete sich auch unsere Kirchstettener Weinheber-Lesung dieser Dichterbeziehung. Frau Burgschauspielerin Ulli Fessl brachte lyrische und biographische Zeugnisse daraus zu Gehör, schloss aber auch andere Freundschaften und geistige Verwandtschaften mit ein: etwa Weinhebers Förderung des jungen Waldviertler Lyrikers Wilhelm Franke und die Spuren seiner Begeisterung für das Werk Johann Nestroys, die sich in „Wien wörtlich“ feststellen lassen. Hier bewies Frau Fessl ein weiteres Mal ihr großes komödiantisches Können und wusste sogar, gemeinsam mit Leopold Grossmann am Klavier, als Coupletinterpretin zu begeistern.

Nun haben wir uns entschlossen, den geplanten Leifhelm-Band zeitlich noch etwas zurückzuschieben. Das geschieht im Hinblick auf das heuer anstehende Jubiläum, die Feier des 125. Geburtstags Josef Weinhebers. Zu diesem Anlass wollen wir nämlich ein anderes Projekt vorziehen: eine neue Auswahl aus dem lyrischen Gesamtwerk Josef Weinhebers. Sie soll es ermöglichen, dass endlich wieder eine leicht zugängliche, überschaubare, aber trotzdem repräsentative Auslese der Lyrik des Dichters im Buchhandel verfügbar ist – als gediegener belletristischer Einstieg und Orientierungsbasis für jedermann. Zurzeit können ja außer den beiden humoristischen Werken, „Wien wörtlich“ (bei Otto Müller in Salzburg) und „O Mensch, gib acht“ (bei V.F. Sammler in Graz), nur mehr einzelne Bände der wissenschaftlichen Gesamtausgabe bezogen werden. Das geplante Buch, zusammengestellt und mit einem Nachwort sowie einer Zeittafel versehen von Christoph Fackelmann, soll diesem wenig befriedigenden Zustand Abhilfe schaffen.

Der Band mit dem Titel „Ich werde wieder sein, wenn Menschen sind“ wird im Hauptteil, in zehn Gedichtkreise gegliedert, einen Eindruck vom gesamten künstlerischen Spektrum vermitteln, wie es sich in den einst so berühmten Konzeptsammlungen der zwanziger und dreißiger Jahre darbietet. Es werden also Proben enthalten sein von den formexperimentalen Gedichten, der lautsymbolischen Lyrik, den „architektonisch“ angelegten zyklischen Versuchen, den radikalen lyrischen Selbstbildnissen, den Gedichten, die musikalische Formensprache in Sprachkunst umzusetzen versuchen („Kammermusik“), dazu auch Beispiele der beißend zeitkritischen Versglossen sowie eine Auslese aus der satirisch-humoristischen Lyrik in Wiener Mundart und aus dem „erbaulichen Kalenderbuch für Stadt- und Landleut“.

Der zweite, kleinere Teil wird zum einen die so genannte „Gottsucher“-Lyrik, d. h. die zu Lebzeiten größtenteils unveröffentlichte, faszinierend „rebellische“ Erstlingslyrik (Zyklen wie „Der dunkle Weg“, „Einer, der mittrank“ etc.), in Auszügen vorstellen. Zum anderen wird auch der Problembereich der in politischem Auftrag geschriebenen Festgedichte aus der Spätzeit anhand dreier prominenter Beispiele dokumentiert: des Hymnus „Den Gefallenen“ für die Schuschnigg-Regierung, 1935, des „Hymnus auf die Heimkehr“ aus dem Frühjahr 1938 und des „Hymnus auf den Frontarbeiter“ für den „Reichsminister für Bewaffnung und Munition“, 1940. Damit kann die Auswahl auch den immer wieder geführten geschichtspolitischen Debatten um die Rolle des Schriftstellers in den NS-Jahren eine entsprechend umsichtige Textbasis zur Hand geben, ebenso dem schulischen und akademischen Diskurs, der darauf Bezug nehmen möchte.

Das Buch wird in einem jungen, anspruchsvollen österreichischen Literaturverlag erscheinen und den Mitgliedern der Josef Weinheber-Gesellschaft als Jahresgabe überreicht werden. Da es aber erst für das Herbstprogramm des Buchjahres vorgesehen ist, müssen wir Sie noch um etwas Geduld bitten. Voraussichtlich wird sich an die Präsentation des Buches im Herbst dann auch eine würdige öffentliche Veranstaltung zur Feier des Gedenkjahrs anschließen. Darüber werden wir Sie noch gesondert informieren. Die Weinheber-Gesellschaft ist bemüht, diese und künftige Arbeitsvorhaben zur Erschließung von Werk, Nachlass und historischem Umfeld des Dichters wie bisher nach Kräften finanziell zu unterstützen. Unsere Mittel sind naturgemäß begrenzt, und das Gelingen unsere ambitionierten Pläne ist daher mehr denn je auf die großzügige Unterstützung und die bereitwillige Mitarbeit der Freunde des Dichters angewiesen! Wir stehen Ihnen als Ansprechpartner gerne zur Verfügung. Bitte wenden Sie sich an den Unterzeichneten (Kontaktadressen s. Briefkopf) oder an Herrn Dr. Christoph Fackelmann (E-Mail: christoph.fackelmann@aon.at; Telefon: +43 (0)676 5875347).

Über aktuelle Pläne und Veranstaltungen zum Thema Josef Weinheber informieren Sie übrigens nicht nur unsere brieflichen Aussendungen, sondern auch das „Weinheber-Forum“ im Internet, das Sie unter der Adresse http://weinheberforum.com erreichen. Gerne können Sie uns für diese Plattform auch auf Ihnen bekannte weitere Vorträge, Lesungen und Aufführungen aufmerksam machen (E-Mail-Kontakt: information@weinheber.at)!

Am Ende dieses Rundbriefs dürfen wir Sie wieder um die Überweisung Ihres Mitgliedsbeitrags ersuchen. Er bleibt auch für 2017 mit

21,80 €

unverändert. Jede Überzahlung oder Spende stellt für unsere gemeinsame Arbeit eine wichtige Hilfe dar und wird dankbar entgegengenommen. Ein Erlagschein liegt bei. Bitte achten Sie darauf, Ihren Namen leserlich einzutragen, damit wir den Beitrag richtig zuordnen können!

Ich wünsche Ihnen ein gutes und erfolgreiches Jahr 2017 und verbleibe im Namen der Josef Weinheber-Gesellschaft

mit herzlichen Grüßen

Christian Weinheber-Janota e. h. (Präsident)

Kirchstettener Weinheber-Lesung 2016

Ulli Fessl und Gottfried Riedl lesen Josef Weinheber

Sonntag, 9. Oktober 2016, 14:00 Uhr

(Achtung: diesmal beginnt die Veranstaltung eine Stunde früher als gewöhnlich!)

Festsaal des Gemeindeamts der Marktgemeinde Kirchstetten (NÖ); Eintritt: 10 Euro

Wie jedes Jahr laden die Josef Weinheber-Gesellschaft und die Marktgemeinde Kirchstetten zur herbstlichen Lesung aus dem Werk Josef Weinhebers. Das Programm bestreiten die beliebten österreichischen Schauspieler Ulli Fessl und Gottfried Riedl, am Klavier begleitet von Leopold Grossmann. – – Ein Fixtermin für alle Freunde des Dichters!

Kartenvorbestellung: 02743/8206 oder 02743/8989

 

Weinhebers schroffe Haltung im Umgang mit seiner Zeitgenossenschaft, insbesondere mit jener aus der literarischen Zunft, ist legendär. Der Mitwelt, die schriftstellerisch das Wort ergriff, hielt er mit kategorischem Trotz die Motto-Verse seines Buches „Adel und Untergang“ (1934) entgegen: „Die mit mir leben, sind mir längst gestorben …“

Zu Weinhebers Selbstbewusstsein gehörte die Überzeugung, eine „singuläre Erscheinung“ zu sein, die in ihrer „künstlerischen Eigenbeständigkeit“ den Vergleich mit den Wortführern des Literaturbetriebs nicht nötig habe. Mit Heftigkeit verwehrte er sich gegen Versuche, seine Dichtung in die Nachfolge oder gar in eine Abhängigkeit von bekannten Größen seiner Epoche zu rücken – selbst solchen, die er durchaus zu schätzen wusste, wie Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Stefan George oder Karl Kraus.

Aber dieser Gestus des großen Einzelgängers markiert doch andererseits nur eine Art seelischen Schutzwall, den ein über die Maßen sensibler Mensch um sich errichtete, um sein einem schweren Schicksal abgerungenes Gleichgewicht zu bewahren und den fremden wie den eigenen Dämonen standzuhalten. Dahinter wird nicht selten echte Anteilnahme, reges Interesse und starke Begeisterungsfähigkeit sichtbar, die Josef Weinheber dem poetischen Kunstschaffen seiner Zeit entgegenbrachte.

Zwei eindrucksvolle Beispiele – Ausnahmen zwar, aber keineswegs Einzelfälle – stehen im Mittelpunkt der diesjährigen Lesung: Weinhebers Eintreten für Hans Leifhelm, den gebürtigen Rheinländer, der in Graz seine Heimat gefunden hatte, und für Wilhelm Franke, den Wiener, den es als Dorfschullehrer in das nördliche Waldviertel verschlagen hatte.

Du mir am Himmel,
goldener Sichelmond,
den ich zu sehen schon
nimmer gewohnt:
Weil mich mit großem
Gram das Geschaute schlug,
weil ich ein Leiden tief
herzinnen trug − (…)“

Mit diesen nachdenklichen Versen aus dem Jahr 1942 kehrte Josef Weinheber mitten im Krieg zu einem seiner Lieblingsgedichte zurück: Hans Leifhelms Lied „Mit dem Sichelmond, mit dem Abendstern“ aus dem Band „Gesänge von der Erde“ (1933). Es war ein andeutungsvolles Bekenntnis zu den „stillen Brüdern“, den Flammenhütern des reinen Gedichts, die das „verlogne Tanzlied“ des Tages verdrängt und geschändet hatte.

Im zweiten Teil regieren dann wieder Witz und Satire. Da kommt eine literarische Vergangenheit zu Wort, mit der Weinheber sich ohne Einschränkung verbunden fühlte: Wir suchen nach den Spuren der Altwiener Volkskomödie in den berühmten Gedichten von „Wien wörtlich“ und stoßen vor allem auf die Vorbildwirkung von Johann Nestroys Rollenliedern und Couplets.

Über Geschichte zu Gericht sitzen

Am 4. März 2016 fanden im Großen Schwurgerichtssaal des Landesgerichts-Gebäudes in Wien VIII die Dreharbeiten zu einem künstlerisch-gesellschaftskritischen „Experiment“ statt, das die Konzeptkünstler Tal Adler aus Israel und Karin Schneider aus Österreich im Rahmen ihres „Conserved Memories (PEEK FWF) research project“ geplant hatten. Unter dem Titel „You be the judge!“ sollte ein Zeugeneinvernahmeverfahren nachgestellt werden, das einem „Urteil“ über die jüngere Geschichte Österreichs vorzuarbeiten gedachte. Namentlich galt das Interesse der Frage eines dauerhaften Einflusses der NS-Jahre, ihres Personals und ihrer Strukturen auf die Zweite Republik, deren „Geschichtspolitik“ und „Erinnerungskultur“, wie sie sich im öffentlichen Raum womöglich bis heute manifestierten. Das „Urteil“ selbst sollte den Zusehern der fertigen Produktion vorbehalten bleiben. Als „Zeugen“ in der Prozess-Mimikry um eine große Abwesende fungierten Personen aus Wissenschaft, Kultur, Politik sowie Zeitzeugen unterschiedlicher Façon. Unter anderem war beabsichtigt, die Problematik anhand einzelner Beispielfälle zu veranschaulichen. Aus der Literaturgeschichte hatte man in kontrastierender Absicht Stefan Zweig und Josef Weinheber und deren jeweilige Wirkungsgeschichte ausgewählt.

Ich hatte die Einladung erhalten, als literaturwissenschaftlicher Fachmann für Josef Weinheber eine Stellungnahme als „Zeuge“ abzugeben. Auch wenn ich gegen Ansatz und Konzept erklärtermaßen große Bedenken hegte – die Vorstellung des Zugerichtsitzens über die Vergangenheit schien mir doch allzu abgeschmackt und mit einer gehörigen Portion von Hybris behaftet -, sagte ich zu, nachdem man mir in mehreren, durchaus verständnisvollen Gesprächen versichert hatte, keineswegs die Inszenierung eines Tribunals zu beabsichtigen. Man wollte sich um eine gewisse Balance in den Ansichten und die Ausdifferenzierung der Standpunkte und ein offenes Ergebnis bemühen. Was meine Skepsis motivierte, vergegenwärtigt auch die Formulierung der an mich gerichteten Fragen. Sie betraf vor allem die Gefahr, dass mit einem allzu plakativen Geschichtsbild operiert werde.

Die Stellungnahmen zu diesen Fragen wurden, wie es in solchen Fällen üblich ist, vorab schriftlich erbeten, ausgearbeitet und nachdrücklich gutgeheißen. Bei den Dreharbeiten jedoch hielt man sich, teils aus organisatorischen Gründen, teils durch individuelles Versagen anderer Beteiligter, nicht an dieses „Drehbuch“. Ich konnte von dem Vereinbarten nur den ersten Abschnitt in geplanter Form wiedergeben, den zweiten Abschnitt bestenfalls fragmentarisch, weil die Frageführung erheblich verändert worden war, und der dritte Abschnitt blieb völlig auf der Strecke. Stattdessen sah ich mich in die Rolle des Verteidigers Josef Weinhebers und der von der Weinheber-Gesellschaft repräsentierten Erinnerungspflege gedrängt. Diese Rolle einzunehmen hatte ich mir vorweg ausdrücklich verbeten, weil ich sie, erst recht in einem solchen Zusammenhang, für völlig unfruchtbar hielt und weil sie weder der Dichter noch ich selbst nötig haben.

Es ist mir kein Anliegen, Kritik an dem unglücklichen Vorgang zu üben, hinter dem ich nicht üble Absicht, sondern ein bedauerliches Missgeschick in Planung und Reflexion erblicke. Und schließlich bin ich ja selber schuld, mich sehenden Auges darauf eingelassen zu haben. Im Folgenden möchte ich jedoch die Gelegenheit ergreifen, meine Antworten auf die Fragen Tal Adlers und Karin Schneiders in der Form zugänglich zu machen, wie ich sie entsprechend der Vorbereitung und Abmachung, wenn auch auf Grund des engen zeitlichen Korsetts mit einigen Kürzungen, hätte vorbringen sollen und wollen. Vielleicht ist es ganz gut und nützt anderen, das zu dokumentieren.

Christoph Fackelmann

 

Denken Sie, dass die Kulturpolitik und die kulturellen Netzwerke der Nazi-Zeit noch immer das heutige Kulturleben in Österreich beeinflussen?

Um das zu beantworten, bin ich nicht der richtige. Diese Frage müsste man einem Politologen oder Zeithistoriker stellen, denn sie ist wohl nur auf dem Gebiet von Rechtsextremismus und Neonazismus zu klären. Diese siedeln heute am absoluten Rand der Gesellschaft, haben kaum intellektuelle Kapazität und kulturbildende Kraft. Ich kann mir daher beim besten Willen nicht vorstellen, dass es noch einen aktiven, irgendwie nennenswerten Einfluss von „Netzwerken“, die aus der „Nazi-Zeit“ in die Gegenwart fortwirken, auf unser geistiges und kulturelles Leben – z. B. die Gegenwartsliteratur, das Theaterleben, den Kulturjournalismus, die Universitäten etc. – gibt.

Wenn ich Ihre Frage jedoch so verstehen soll, dass es um das Fortwirken und Fortbestehen eines bestimmten literarischen Kanons über die politische Zäsur von 1945 hinweg bis in die Gegenwart geht, dann kann ich konkreter antworten: Ja, das gibt es. Dieser literarische Kanon ist allerdings kein „Nazi-Kanon“ bzw. berührt sich mit einem solchen nur teilweise. Er ist älter, langlebiger und selbstverständlich weniger radikal. Im Wesentlichen gründet er sich auf zwei Faktoren:

In der Ästhetik ist er tendenziell antimodern, will von den Avantgarden des 20. Jahrhunderts wenig wissen, rezipiert allenfalls noch die Positionen der sog. Klassischen Moderne, und auch das eher äußerlich.

Wichtiger ist ihm indes, zweitens, eine stoffliche und gesinnungsmäßige (ideologische) Auslesekomponente: Die Werke und Autoren, die er bevorzugt und tradiert wissen möchte, verbindet er mit Deutschbewusstsein, von Österreich aus gesprochen: einem deutschnationalen, also anschlussfreundlichen, partiell völkischen politischen Weltbild, mit der motivischen Hinwendung zu „Volkstum“ und „Heimat“, dem Interesse für das sog. „Grenzlanddeutschtum“ und dessen historische Schicksale im „Volkstumskampf“ usw. Dieser literarische Kanon hatte noch in den fünfziger und sechziger Jahren eine beträchtliche Wirkkraft in Österreich. Das war auch dadurch bedingt, dass nicht wenige lebende Vertreter der sog. „nationalen“ Schriftstellerschaft aus der Zwischenkriegszeit in der frühen Zweiten Republik eine relative öffentliche Anerkennung erfuhren und über gewisse Publikationsspielräume verfügten. Ihre mehr oder minder intensive Involvierung in die Kulturpolitik der NS-Jahre wurde damals nicht restlos ausgeklammert, sie spielte aber eine untergeordnete Rolle. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in Österreich während dieser Jahrzehnte eine verhältnismäßig restaurative Grundstimmung im kulturellen Leben vorherrschte, in die kulturkonservative Gruppierungen verschiedener Herkunft einstimmen konnten.

Das wandelte sich allerdings in den späteren Jahrzehnten bekanntlich grundlegend, sodass der deutschnational-konservative Kanon in der Literatur und Kunst schon wegen des völligen Paradigmenwechsels im Kunst- und Kulturbegriff heute fast völlig an Geltung verloren hat. Die Namen vieler Schriftsteller, die darin fixe Größen waren, sind heute vergessen oder kehren nur noch unter dem Vorzeichen kritischer Auseinandersetzung mit der NS-Zeit wieder. Der Kanon selbst erfreut sich wohl noch eines gewissen Schattendaseins in peripheren, eher schlecht beleumundeten Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft, wie in Landsmannschaften, nationalen Burschenschaften, verbliebenen Volksbildungskreisen des Dritten Lagers.

 

Als ausgewiesener Forscher zu Weinheber, wie würden Sie den Autor und seine Signifikanz einschätzen? (wie viele Bücher, Preise, Übersetzungen hat Josef Weinheber ungefähr vorzuweisen?) 
Wie schätzen sie die Erinnerungskultur ein, die Weinheber zuteil wird?

Um an das Gesagte anzuknüpfen: Weinheber ist der interessante Fall eines wirklich bedeutenden Autors, der in den deutschnational-konservativen Kanon eingemeindet wurde, ohne wirklich dort hinein zu passen. Schon früh sprach die kritische Weinheber-Literatur daher davon, dass er „auf den falschen Parnass“ gestellt worden sei. Das deutschnational geprägte Bildungsbürgertum hat ihn also gleichsam als „Gesinnungsgenossen“ okkupiert und ignoriert, was alles dagegen spricht, vor allem wenn man sein Künstlertum objektiv in Rechnung stellt. Das funktionierte erst recht nach seinem Tod, als er nicht mehr Einspruch erheben konnte, immer wieder ganz gut. Diese anekdotenumrankte Vereinnahmung demonstriert zum Beispiel der von Heinrich Zillich herausgegebene Erinnerungsband „Bekenntnis zu Josef Weinheber“ von 1950.

Sie repräsentiert aber selbstverständlich nur ein kleines Fragment innerhalb der Weinheber-Rezeption vor und nach 1945, und man darf es sich auch keineswegs allzu einheitlich und planvoll vorstellen. Es macht mich allerdings stutzig, wenn mich manchmal nach einem Vortrag oder einer Lesung Zuhörer, meist in hohem Alter, daraufhin befragen, wie ich denn als Weinheber-Kenner zu ihren übrigen Lieblingsdichtern, zum Beispiel Mirko Jelusich, Bruno Brehm oder Karl Heinrich Waggerl, stünde. Nicht dass nicht auch an diesen Schriftstellern mitunter Bemerkenswertes und Interessantes wäre, aber ich weiß, was Weinheber von ihnen hielt und was ihn literarisch-künstlerisch fundamental von ihnen unterschied, deren vermeintlicher politischer Weggefährte er war. Auch heute macht sich diese Frontenbildung also noch bemerkbar, nun freilich, abgesehen von solchen Überbleibseln der Generationenprägung, vor allem in der negativen Wahrnehmung, mündend in das plumpe Vorurteil des „Nazi-Dichters“.

Natürlich hat Weinheber selbst dazu beigetragen. Er hat sich ab einem bestimmten Zeitpunkt, etwa 1933/34, „kulturbetrieblich“ an das „nationale“ Lager angeschlossen. Er hat für kurze Zeit sogar an den von der NSDAPÖ und Mirko Jelusich ausgehenden Sammelbestrebungen unter „nationalen“ Schriftstellern Österreichs („Kampfbund für deutsche Kultur“) mitgearbeitet. Er hat in nationalkonservativen Verlagen und Zeitschriften publiziert und sich auch den Ehrungen von offizieller Seite, sei es aus Schuschnigg-Österreich, sei es aus Hitler-Deutschland, nicht verweigert. Hinzu kommt eine Anzahl von Fest- und Preisgedichten, die er zu offiziellen politischen Anlässen schrieb, zwar nicht aus eigenem Antrieb und Überzeugung, sondern in einer Mischung von Auftrag, Zwang und (lebensgeschichtlich bedingtem) übertriebenem Geltungsbewusstsein, meist mehr schlecht als recht „zusammengebosselt“.

Die deutschnationale Weinheber-Legende benützt also Gesten der Annäherung, die der Autor selbst setzte, allerdings in einer nivellierenden und verzerrenden Form. Was Weinheber ursprünglich dazu trieb, sich mit dem Lager der Nationalisten einzulassen, ist mit wenigen Worten nicht zu erklären. Der Germanist Ernst Alker hat schon 1952 für die Haltung Weinhebers während der dreißiger Jahre den Begriff des „politischen Immoralismus“ geprägt. Damit liegt man sicher nicht ganz falsch, vor allem, wenn man sich dazu vergegenwärtigt, wie stark damals der soziale Druck war, Partei zu ergreifen: im politischen Lagerkampf, dessen Bürgerkriegs-Zuspitzungen längst auch kulturelle Dimensionen erlangt hatten (die Sozialgeschichtsschreibung über die Zwischenkriegszeit spricht von einer weitgehenden „Verghettoisierung“ gegeneinander abgeschotteter kultureller Milieus). Wichtig ist auch der radikale Formalismus, der Weinheber als Künstler prägte und der die Stoffe und Anlässe seiner Gedichte für ihn zweitrangig erscheinen ließ. Dies, verbunden mit einem grundsätzlichen tiefen, tragischen Pessimismus, führte zu einer entschiedenen Verachtung für alles zeitgenössische Treiben auf der Ebene des Meinungskampfes – sicherlich eine Form von demonstrativer Ignoranz.

Wer genauer auf die Praxis des „politischen Handelns“ von Josef Weinheber hinsieht, stößt freilich unweigerlich auf eine komplexe Fülle von Widersprüchen und Ungereimtheiten. Er kann zum Beispiel beobachten, wie Weinheber schon beim ersten Mal, als er eine große Auszeichnung im Deutschen Reich entgegennimmt (den „Mozart-Preis“, 1936 in München) mit einer unverhohlenen Klarstellung vor sein Publikum tritt: Bei dem „Ruhm“, zu dem er nun überraschend doch noch gekommen sei, handle es sich wohl „im großen und ganzen“ um „ein Missverständnis“. Oder bei einer vielbeachteten Veranstaltung zu seinen Ehren, zu der 1937 das „Vaterländische Front-Werk ,Neues Leben‘“ eingeladen hat: Weinheber bekennt sich mit Nachdruck dazu, dass er sein „Sprachgewissen“, also das Zentrum seines literarischen Selbstverständnisses, Karl Kraus verdanke, dem verpönten „Fackelkraus“, einem Gegner alles Völkischen, Nationalistischen, Totalitären in Sprache und Denken. Das ist ein oft wiederholtes Bekenntnis, dessen Folgen kaum zu überschätzen sind. Es stimmt auch überein mit der immer wieder zum Ausdruck gebrachten Verachtung, die Weinheber für die Doktrin der „volkhaften“ Dichtung, den ganzen „Blut und Boden“-Zeitgeist hegt.

Oder die Frage, wie Weinheber tatsächlich über den „Anschluss“ denkt, dem er mit seinem „Hymnus auf die Heimkehr“ ein Festgedicht gewidmet hat: Weinheber bekundet nämlich in Briefen und Gesprächen mit Freunden, dass er darüber geweint habe, dass er sich lange nicht damit habe abfinden können, bis er schließlich resigniert habe, dass er den Verlauf, also die Gewaltexzesse, die Repression, das Auslöschen österreichischer Identität usw., mit schierem Entsetzen verfolgt habe. Und im Sommer 1938 denkt er sogar daran, eine bevorstehende Vortragsreise durch die Schweiz zum Absprung in die Emigration zu nützen. Was ihn davon abbringt, ist vor allem das Flehen enger Vertrauter, die ihn zum Ausharren bewegen: „Willst Du die Kunst den S.A. Leuten [sic!] überlassen?“

Und da sprechen wir noch gar nicht davon, was ihn als Lyriker künstlerisch ausmacht und eben weit über den Tellerrand jenes nationalkonservativen bis nationalsozialistischen Kunst- und Medienbetriebs hinaushebt. Deshalb war auch sein künstlerischer Rang – das Bleibende – diesen „Verstrickungen“ zum Trotz eigentlich über alle ideologischen Gräben hinweg unbestritten, sowohl zu Lebzeiten als auch noch weit in die Nachkriegsepoche hinein, die Generation der Bachmann, Bernhard, Jandl einschließend.

Dass er persönlich (nicht künstlerisch) grandios an seinen an Karl Kraus geschulten Maßstäben im Umgang mit der „Zeit“ scheiterte, macht übrigens auch viel von der Faszination aus, die gerade seine späte Lyrik ausstrahlt. Denn darin, etwa in den „Bekenntnis“-Gedichten des letzten Buches, „Hier ist das Wort“, setzt er sich ja selbst schonungslos mit seinem menschlichen Versagen auseinander. Diese Gedichte sind von einer bestürzenden Hellsichtigkeit. In einem Brief aus dem Jahr 1943 fasst er seine Lage dann in den bekannten Sätzen zusammen: „Ich musste, seit ich berühmt bin, dem Mob aller Schattierungen meinen Tribut zahlen. Gleichwohl weiß ich um meine Substanz. Sie ist umschrieben mit: Einsamkeit, Urangst, Frömmigkeit.“ – Das alles verrät sehr viel über die Verwerfungen des modernen Literatursystems unter den extremen Verhältnissen des frühen 20. Jahrhunderts.

 

Nach Ihrer Meinung sollten die Lektüre Weinhebers, die Forschungen zu ihm und die Erinnerungen an ihn von seinen politischen Ausrichtungen und Aktivitäten getrennt werden. Könnten Sie uns diese Haltung darlegen?

Da hätten Sie mich gründlich missverstanden. Ich bin selbstverständlich nicht der Ansicht, dass in der historischen Auseinandersetzung mit Josef Weinheber oder mit einem anderen Dichter seiner Generation das politische Handeln – vor allem soweit es ein Texthandeln ist – unberücksichtigt oder gar gezielt ausgeblendet bleiben sollte, sei es in der öffentlichen Erinnerung und Kulturpflege, sei es in Wissenschaft und Forschung. Das wäre eine unhaltbare, rettungslos veraltete Position.

Es kommt mir aber sehr auf einige kritische Differenzierungen hinsichtlich der gelebten Praxis an:

Erstens hat sich die mediale Befassung mit solchen Fällen in unserer Zeit als völlig unfähig und unwillig erwiesen, der von mir zuvor bestenfalls angedeuteten Komplexität des Problems gerecht zu werden. Sie beschränkt sich auf die verhängnisvolle Übertragung von Ritualen der Aufdeckerjournalistik auf den Umgang mit der Erinnerungspflege auf dem Gebiet des geistigen und literarischen Erbes. Hysterische Medienkampagnen, „Nazi-Dichter“-Schlagzeilen, parteiliche Ausschlachtung, dafür in Dienst genommene Historikerkommissionen, denkmalstürzlerischer Aktionismus: das sind keine tauglichen Mittel, um anspruchsvolle geschichtspolitische Diskurse zu führen. (Denken Sie an den lächerlichen Tanz um den Text von Manfred Hausmann, der vor zwei Jahren zur Probe-„Zentralmatura“ gegeben wurde: Da haben sich die Skandalisierer reihum die schrecklichsten Blößen gegeben, was literarhistorische Bildung und hermeneutisches Vermögen betrifft.) Der Erkenntnisgewinn, die Aufklärungsleistung solcher Vorgänge ist gleich null, auch ihr vorgeschobener Provokationswert ist längst nicht mehr ernst zu nehmen. Sie sind nicht Zeugnis von „Mut“, sondern von hochgradigem Konformismus. Die Skandale selbst wurden alle schon dutzende Male durchgespielt (im „Fall“ Weinhebers buchstäblich seit den ersten Nachkriegsjahren, wenn nicht seit 1933), die Fakten liegen seit ewigen Zeiten offen zutage.

Daher sind die gegenwärtigen Polemiken gegen Straßenbenennungen, Denkmäler, Ehrentitel u. dgl. meiner Ansicht nach Versuche, aus längst entschiedenen kulturpolitischen Hegemonialdiskursen noch einmal kurzfristig Kapital in eigener Sache zu schlagen, und zwar auf dem Rücken längst Verstorbener und Vergessener. Das ist feig, ja in hohem Maße hypokritisch. Man soll sich jedenfalls keiner Illusion darüber hingeben, was man dann von unserer heutigen Erinnerungspraxis im öffentlichen Raum, unseren Auswahl-, Auslese- und Säuberungsprozessen in dreißig, vierzig Jahren halten wird. Also: Hier wäre Zurückhaltung und intellektuelles Verantwortungsbewusstsein, vor allem der politischen Entscheidungsträger, aber auch der „Experten“, gefragt.

Zweitens: Geschichtspolitik, die sich auf öffentliche Zeichen der Erinnerungskultur erstreckt, macht es sich leicht, wenn sie sich auf die vermeintlichen politischen Schattenseiten der Geehrten aus früheren Zeiten kapriziert. Denn: wer kennt diese Personen heute denn überhaupt noch? Wer weiß etwas von ihren Leistungen, ihrem Werk, dessentwegen man es einst für wert befand, an sie zu erinnern. Denn wenn es sich um Personen aus dem Geistesleben – Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler – handelt, muss die Erinnerung an diese Leistungen doch wohl Vorrang haben. Kritische Vermittlung hätte also zumindest ganzheitlich anzusetzen. Diese Sensibilität kann ich leider in den aufgeregten Debatten um Straßenpatronate, Ehrendoktorate etc. nicht erkennen. Plumpe posthume Distanzierungsgesten wie die Aberkennung von Ehrentiteln oder das grassierende „Zusatztafel“-Unwesen gehen mit diesem Dilemma höchst erbärmlich um.

Ich halte grundsätzlich nicht viel vom Denkmalkult mit seiner letztlich aus dem nationalliberalen Bürgerstolz der Gründerzeit herrührenden Personenverklärung. Sicher waren die Urteile, die ihm zugrunde lagen, auch in früheren Jahrzehnten voll von zweifelhaften, interessenbedingten Einschränkungen. Aber es sollte doch wenigstens soviel außer Streit stehen:

Wenn ich an Stefan Zweig als Verfasser bedeutender, weltweit gelesener Literatur erinnern möchte, dann sollte mich nicht daran hindern, dass der Autor seine Propagandaarbeit im 1. Weltkrieg verschwieg, als er sich später als Pazifist profilierte, oder dass er womöglich ein ziemlich fragwürdiges Sexualleben führte (wie es jüngst aus Anlass einer neuen Biographie durch die Medien geisterte). Und ob ich an Josef Weinheber erinnern möchte, darüber entscheidet nicht, was ich von seinem chronischen Alkoholismus, seiner mitunter maßlosen Ichbezogenheit oder eben seinen politischen Verfehlungen halte, sondern dass ich in „Adel und Untergang“ und „Wien wörtlich“ bleibende Kunstwerke sehe.

Bei aller grundsätzlichen Skepsis gilt es mithin, Prioritäten zu setzen. Die geradezu manische Engführung auf (einige wenige, ganz bestimmte) politische Teilaspekte von Schriftsteller- und Künstlerbiographien aus dem frühen 20. Jahrhundert, wie wir sie heute beobachten, redet eigentlich um den heißen Brei herum. Sie umkreist in sicherem Abstand, verdruckst, das eigentlich Herausfordernde, das „Werk“. Sie geht der offenen Auseinandersetzung damit mit fast schon pathologischem Eifer aus dem Weg. – Ich bezweifle, dass diese Spielart von Vergangenheitsverdrängung die gesündere ist.