Lieblingsgedicht Nummer 7 – „Das reine Gedicht“

DAS REINE GEDICHT

Du gabst im Schlafe, Gott, mir das Gedicht.
Ich werde es im Wachen nie begreifen.
Nachbildend Zug um Zug das Traumgesicht,
nur sehnen kann ich mich und Worte häufen.

Da es ein Klang war, sollt ich es nicht hören?
Da es ein Bild war, sollt ich es nicht sehn?
Nun wird die Oberfläche mich betören,
im Tonfall wird der Klang zuschanden gehn.

Wie war es doch? Es war in seligem Traume.
Nur noch in solchem Wachsein lebe ich.
Die Augen schließend, raubt es mich dem Raume.
Traum schlägt den Blick auf, und ich schaue dich.

(Entstehungsjahr: 1921; erste Buchveröffentlichung: „Von beiden Ufern“, 1923)

VBU 1923

Lieblingsgedicht Nummer 6 −„Es wäre nicht Wien“

ES WÄRE NICHT WIEN

War net Wien, wann net durt,
wo kan Gfrett is, ans wurdt.
Denn dås Gfrett ohne Grund
gibt uns Kern, hålt’ uns gsund.

War net Wien, ging net gschwind
wieder amål der Wind,
daß der Staub wia net gscheit
umanandreißt die Leut.

War net Wien, wolltst zum Bier
und es stößert mit dir
net a B’soffener z’samm,
der a Feuer mächt ham.

War net Wien, wann net gråd
aufgråbn wurdt in der Ståd,
daß die Kübeln mit Teer
sperrn den Fremdenverkehr.

War net Wien, käm net glei
aner dasig vorbei,
der von d’ Federn aufs Stroh
g’rutscht is, so oder so.

War net Wien, Pepi, wannst
raunzen mächst und net kannst:
Denn dås Gfrett ohne Grund
gibt uns Kern, hålt’ uns gsund!

(Entstehungsjahr: 1935;
erste Buchveröffentlichung: „Wien wörtlich“, 1935)

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Lieblingsgedicht Nummer 5 –„Im Grase“

IM GRASE

Glocken und Zyanen,
Thymian und Mohn.
Ach, ein fernes Ahnen
hat das Herz davon.

Und im sanften Nachen
trägt es so dahin.
Zwischen Traum und Wachen
frag ich, wo ich bin.

Seh die Schiffe ziehen,
fühl den Wellenschlag,
weiße Wolken fliehen
durch den späten Tag –

Glocken und Zyanen,
Mohn und Thymian.
Himmlisch wehn die Fahnen
über grünem Plan:

Löwenzahn und Raden,
Klee und Rosmarin.
Lenk es, Gott, in Gnaden
nach der Heimat hin.

Das ist deine Stille.
Ja, ich hör dich schon.
Salbei und Kamille,
Thymian und Mohn,

und schon halb im Schlafen
– Mohn und Thymian –
landet sacht im Hafen
nun der Nachen an.

(Entstehungsjahr: 1936;
erste Buchveröffentlichung: „Späte Krone“, 1936)

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